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Dicksein ist keine Charaktereigenschaft

Dicksein ist keine Charaktereigenschaft
© Kari Modén/Peppercookies.com
Die Bloggerin Anke Gröner ist nicht dünn. Auch nicht nur ein bisschen mollig. Oft musste sie sich dafür verächtliche Kommentare anhören. Und wie hat sie jahrelang darauf reagiert? Sie hat mitgemacht.

Seitdem meine Mutter mich mit 12 Jahren das erste Mal auf Diät gesetzt hat, weiß ich, wie viele Kalorien in so ziemlich jedem Lebensmittel stecken. Aber erst seitdem ich mit 40 Jahren das Essen ganz neu mit Hilfe eines Food-Coachings gelernt habe, weiß ich, dass Nahrung mich sehr glücklich anstatt panisch machen kann. Ich weiß endlich, dass mein Körper eine ziemlich klasse Sache ist. Auch wenn er fülliger und schwerer ist als der weibliche Durchschnittskörper.

"Fett" hat sich in den letzten Jahrzehnten als neues Lieblingsschimpfwort etabliert. Denn fett zu sein, das scheint etwas extrem Fürchterliches zu sein. So schlimm, dass 12-jährige Mädchen wie ich auf Diät gesetzt werden - wobei sich die Altersgrenze in den letzten Jahren nach unten verschoben hat. Vor Kurzem veröffentlichte eine US-amerikanische Mutter ein Buch, in dem sie über die Diät ihrer siebenjährigen Tochter schrieb. Die Reaktionen waren vorhersehbar: Die einen, zu denen auch ich gehöre, können schlicht nicht glauben, dass man so bescheuert sein kann. Die anderen geben der Mutter recht und sagen: Sie bewahrt ihre Tochter doch nur vor dem schlimmen Schicksal, dick zu sein.

Diese Gehirnwäsche nennt man auf Neudeutsch "fat-shaming"

Auch ich hatte jahrelang verinnerlicht, dass Dicksein das Schlimmste ist, was einem passieren kann. Ich habe geglaubt, dass ich als dicke Frau nie einen Partner, einen Job oder ein erfülltes Leben haben werde - weil ich ja dick bin. Und selbst zu einer Zeit, in der ich einen Partner, einen Job und ein erfülltes Leben hatte, war ich nicht zufrieden - denn ich war schließlich immer noch dick. Also konnte ich doch gar nicht zufrieden sein. Was für ein dämlicher, gehirngewaschener Blödsinn.

Diese Gehirnwäsche nennt man auf Neudeutsch "fat-shaming". Dicken Menschen wird so ziemlich den ganzen Tag lang unterstellt, dass sie nicht in Ordnung sind, und das auch gern mal lautstark und ohne Rücksicht auf Höflichkeit. Wenn ich mir beim Bäcker ein Croissant kaufe anstatt brav ein Vollkornbrötchen (oder noch besser: gar nichts), fühlen sich durchaus mal wildfremde Menschen bemüßigt, mir zu sagen, dass ich das jetzt lieber nicht essen sollte. Wenn man als dicke Frau neben einer schlanken Frau im Flugzeug sitzt, kann es passieren, dass die Nachbarin sichtbar ihren Facebook-Status per Handy updatet und sich darüber beklagt, dass sie neben einer Fetten sitzen muss. Wenn man sich als Doktorand an der New York University bewirbt, kann man das Pech haben, an einen Professor zu geraten, der kürzlich twitterte: "Liebe übergewichtige Doktoranden: Wer nicht die Kraft hat, auf Kohlenhydrate zu verzichten, hat auch nicht die Kraft zur Dissertation. #wahrheit"

Das Widerliche an diesen Beispielen ist nicht nur, dass sie keine Einzelfälle sind. Das Widerliche ist, dass sie gesellschaftsfähig sind. Bei so ziemlich allem, was abseits unserer selbstgesetzten weißen Hetero-Norm stattfindet, reißen wir uns inzwischen zusammen und machen möglichst keine verletzenden Bemerkungen mehr. Aber wenn es ums Dicksein geht, brechen alle Dämme, die Vorurteile in Schach halten. Nur noch mal zur Erinnerung: "Dick" ist keine Charaktereigenschaft. Es ist eine Körperform.

Das Perfide am gesellschaftlichen "fat-shaming": Man beteiligt sich sogar als Betroffene daran, weil es eben so normal ist. Ich als dicke Frau habe jahrelang auf Partys erst mal den ganzen Raum abgesucht, um zu sehen, ob vielleicht jemand anwesend ist, der dicker ist als ich. Dann war der Abend gerettet, denn so gab es jemand anderen, auf den ich herabschauen konnte, so, wie andere auf mich herabschauen. Ich habe über ihn oder sie dann genau das gedacht, was andere meiner Meinung nach auch über mich denken, nämlich: Wie kann man sich nur so gehenlassen.

Erst in dem Moment, in dem ich aufhörte, meinen eigenen Körper zu hassen, konnte ich auch aufhören, andere zu verurteilen: Wenn ich okay bin, sind die anderen auch okay. Dieser Moment kam, als ich endlich damit aufhörte, Essen als meinen Feind zu betrachten, der zwischen mir und meinem eigentlich schlanken Selbst steht.

Wir haben uns langsam angefreundet, mein dicker Körper und ich. Es gibt immer noch Tage, an denen ich kritisch auf ihn schaue und mir wünsche, er würde in ein, zwei Kleidergrößen weniger passen. Aber an den meisten Tagen fühle ich, was er kann: Er trägt mich, er fährt mit mir Rad, er lernt mit mir, er arbeitet mit mir, lacht und weint mit mir - und kriegt dafür Rotwein und Schokolade zur Belohnung. Er war niemals mein Feind. Das war immer nur diese blöde Gehirnwäsche, die mir einreden wollte, ich sei nicht in Ordnung, obwohl ich es die ganze Zeit über schon war.

Anke Gröner, 44, ist freie Texterin und Bloggerin (

). Ihre Erfahrungen hat sie in einem Buch festgehalten (

, Wunderlich, 14,95 Euro).

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Ihre Erfahrungen Wie geht es Ihnen mit Ihrer Figur? Haben Sie Frieden geschlossen? Oder gehören Sie auch zu den vielen Frauen, die täglich einen "Ich hasse meinen Körper!"-Moment haben? Erzählen Sie uns Ihre Geschichten.

Text: Anke Gröner Illustration: Kari Modén/Peppercookies.com BRIGITTE 22/13

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