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Familienwahlrecht: Babys an die Wahlurnen!?

Familienwahlrecht: Babys an die Urne?
© Shutterstock / vasylshepella
Nicht nur unsere Familienministerin will Eltern eine Wählerstimme mehr geben. Ein Skandal, findet Gast-Autorin Kerstin Herrnkind.

Klingt erstmal gut: Eltern sollen mehr Stimmen bekommen

Klingt verlockend: Eltern sollen pro Kind eine Stimme mehr bekommen. Sie bekommen mehr politischen Einfluss, weil ihre Stimme mehr Gewicht hat. Der Familienverband hat gerade eine bundesweite Kampagne gestartet. Schirrmherrin ist Ex-Familienministerin Renate Schmid (SPD). Auch die amtierende Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) würde Eltern gern eine zusätzliche Wählerstimme pro Kind zuschanzen. Ein Familienwahlrecht fände sie gut, sagte die Sozialdemokratin schon zum 25. Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 2014. Die Welt war begeistert: "Ein Seniorenpaar, das keine Enkel hat und auch keine Kinder, hat bei Wahlen zwei Stimmen – genauso viele wie eine klassische Familie mit drei minderjährigen Kindern. Und das Seniorenpaar hat sogar ein doppelt so hohes Stimmengewicht wie eine Familie, deren Oberhaupt eine alleinerziehende Mutter ist. Das ist für sich genommen eine Ungerechtigkeit."

Die Anhänger des Familienwahlrechts sitzen in fast allen Parteien. Es ist nicht der erste Versuch, ein Familienwahlrecht durchzusetzen. Schon zweimal schaffte es der Vorschlag in den Bundestag. Ende September 2003 stellten Abgeordnete mit ihrem Antrag "Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an" das Familienwahlrecht im Bundestag zur Abstimmung. Natürlich ging es mal wieder um zahlende Neubürger fürs Sozialsystem, auch wenn das nur zwischen den Zeilen anklang. "Die demografische Entwicklung in Deutschland gefährdet die Zukunft unserer Gesellschaft", liest man in der Bundestagsdrucksache Nummer 15/1544. "Die Probleme der deutschen Gesellschaft der Zukunft sind nur zu bewältigen, wenn im Generationenvertrag auch die junge Generation berücksichtigt und Kindern und den sie großziehenden Eltern ein ihrer Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft angemessener Stellenwert eingeräumt wird. Die Gesellschaft insgesamt muss kinderfreundlicher werden, die Bereitschaft junger Erwachsener, Eltern zu werden, muss gestärkt und die zahlreichen Probleme und Nachteile für Familien mit Kindern müssen abgebaut werden."

In Wahrheit geht es um Nachwuchs für die Sozialkassen

Der Antrag war von prominenten Politikern unterschrieben: Wolfgang Thierse (SPD), damals Vizepräsident des Bundestages und langjähriges Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), der evangelische Pfarrer Rainer Eppelmann (CDU), Dirk Niebel (FDP), der später Entwicklungsminister wurde, der bekannte FDP-Politiker Hermann Otto Solms und die grüne Pastorin Antje Vollmer. Thierse hat zwei Kinder. Eppelmann fünf, Niebel und Solms jeweils drei.

Der Bundestag lehnte den Antrag ab. Im Juni 2008 gab es einen zweiten Versuch, der wieder prominente Unterstützer hatte, darunter die ehemalige Familienministerin Renate Schmidt (SPD), Jens Spahn (CDU), heute Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Cornelia Pieper, seinerzeit stellvertretender Bundesvorsitzende der FDP. Thierse und Solms waren auch wieder mit von der Partie. Wieder war nicht direkt die Rede davon, dass die Sozialsysteme in Deutschland auf Neubürger angewiesen sind: "Die Demokratie in Deutschland steht vor einer ungewöhnlichen Herausforderung, zugleich vor einer Bewährungsprobe ... Weil der Anteil älterer Menschen immer mehr zunimmt, gerät das politische Zahlenverhältnis aus dem Gleichgewicht, die Anliegen jüngerer Generationen werden aus dem politischen Handlungsfeld fast zwangsläufig verdrängt."

Im Juni 2009 wurde im Bundestag über die Bundestagsdrucksache 16/9868 diskutiert. "Wir wollen damit den Zusammenhalt der Generationen fördern. Wir wollen kein Gegeneinander der Generationen, sondern ein Miteinander", versicherte Renate Schmidt (SPD). "Kindergrundrechte und das Prinzip der Generationengerechtigkeit" gehörten "in die Verfassung und als eine der logischen Schlussfolgerungen daraus ein Wahlrecht von Geburt an, um endlich der Zukunft in unserem Land eine Stimme zu geben". Solms meinte: "Ein Wahlrecht ab Geburt bringt keine Privilegien für Familien. Im Gegenteil, es beendet eine Benachteiligung von Familien. Das ist verfassungsrechtlich geboten." Steffen Reiche (SPD) aus Cottbus verriet, worum es wirklich ging: "Wir brauchen in den Zeiten rasanter demografischer Veränderungen eine neue Balance. Deshalb kämpfen wir für das Wahlrecht von Geburt an."

Die Linke Petra Pau kam leider nicht mehr zu Wort, gab aber ihre Rede zu Protokoll. Sie brachte die Heuchelei dieses Antrags auf den Punkt: "Allen Bürgerinnen und Bürgern wird noch immer verwehrt, via Volksentscheide oder Volksabstimmungen auf Bundesebene ein eigentlich verbrieftes Grundrecht wahrzunehmen, verweigert übrigens von etlichen Abgeordneten, die nun Babys zur Urne rufen oder deren Eltern privilegieren wollen."

Der Antrag auf ein Wahlrecht von Geburt an ging in die Ausschüsse und wurde ein paar Monate später mit der Bundestagswahl vom Tisch gewischt. Bis zum nächsten Mal. Denn die Befürworter wissen hochkarätige Juristen an ihrer Seite: Der inzwischen verstorbene Bundespräsident und Ex-Verfassungsrichter Roman Herzog (CDU), sein Kollege, Paul Kirchhof, ebenfalls Bundesverfassungsrichter a.D., sind für ein Familienwahlrecht. »Es würde die Demokratie gerechter machen und, wie ich meine, auch stabilisieren«, meint Kirchhof, der mal als Merkels Finanzminister gehandelt wurde. »Die Demokratie folgt dem Prinzip: ein Mensch, eine Stimme. Ein Kind ist ein Mensch. Ein Kind ist sogar der Mensch, der von den politischen Entscheidungen von heute noch 80 Jahre betroffen ist, während der andere vielleicht 60, 40 oder 10 Jahre betroffen ist«, sagte er dem Deutschlandfunk. Auch die Juristin Dr. Lore Maria Pschel-Gutzeit, Ex-Justizsenatorin von Hamburg und Berlin, ist nicht der Meinung, dass alle Staatsgewalt »nur vom volljährigen Volk« ausgehen sollte.

Kinderlose sollen zu Wählern zweiter Klasse gemacht werden

Es ist schon erstaunlich, dass Abgeordnete und Verfassungsrechtler, die die Paragrafen des Grundgesetzes eigentlich im Schlaf kennen müssten, argumentieren, als hätten sie nie einen Blick in die Verfassung geworfen. »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt«, heißt es in Artikel 2, ganz vorne also. Dieser Artikel fällt unter die Ewigkeitsklausel, das heißt, dass er, in Stein gemeißelt, nicht geändert werden kann. Und zur freien Entfaltung gehört wohl auch die Entscheidung, keine Kinder zu kriegen.

»Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus ...«, steht in Artikel 20. Zum Volk gehören doch auch die Kinder, argumentieren die Befürworter des Familienwahlrechts und unterschlagen, was noch im Grundgesetz steht: Wahlen sind frei, allgemein, geheim, gleich und unmittelbar. Allgemein bedeutet, dass alle Bürger grundsätzlich das gleiche Wahlrecht haben. Unabhängig davon, welchen Beruf sie ausüben, ob sie arm oder reich sind, wie viel Steuern sie zahlen. Unabhängig von Geschlecht und Schulbildung. Also auch unabhängig von der Zahl ihrer Kinder. Wahlen sind gleich. Bedeutet: Jeder Wähler hat gleich viele Stimmen. In einer Demokratie geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, ja. Aber das sind alle Bürger und nicht nur die Familien. Ein Familienwahlrecht würde bedeuten, dass die Gewalt von Familien ausginge. Freie Wahlen bedeuten unter anderen, dass niemand sanktioniert oder diskriminiert wird. Also auch Kinderlose nicht. Im Grundgesetz steht, wer sich aufstellen lassen und an die Wahlurne darf, nämlich »wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt«.

Wie frei und geheim ist eine Wahl, wenn Eltern für ihre Kinder stimmen? Und was ist, wenn Eltern sich mit ihren Kindern darüber streiten, welche Parteien sie nun wählen wollen? Meine konservativen Eltern hätten nie, nie, nie für mich die Grünen gewählt. Jeder, der ein Familienwahlrecht fordert, also auch die amtierende Bundesfamilienministerin und ihre Vorgängerin Schmidt, wollen Kinderlose zu Wählern zweiter Klasse machen. »Wir wollen kein Gegeneinander der Generationen, sondern ein Miteinander«, salbaderte Renate Schmidt im Bundestag.

Doch mit dem Familienwahlrecht schafft sie das Miteinander ab. Spielt Eltern und Kinderlose gegeneinander aus. Spaltet die Gesellschaft. Entkernt das Grundgesetz. Vielleicht sollten die Befürworter eines Familienwahlrechts mal im Shop der Bundeszentrale für politische Bildung stöbern. Dort finden sie ein sehr lesenswertes Buch mit dem Titel "Demografie und Demokratie". Zum »Wahlrecht von Geburt an« liest man darin: »Diese verfassungsrechtliche Festlegung von Bürgerinnen und Bürgern auf einen – im wahrsten Sinne des Wortes – ›biopolitischen‹ Standpunkt ist mit den Grundsätzen der Menschenwürde, auf der die Freiheit und Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger im demokratischen Verfassungsstaat beruht, unvereinbar.«

Ja, auch das: Die Befürworter eines Familienwahlrechts scheren sich nicht um die Menschenwürde Kinderloser. Was sie außerdem geschickt unter den Tisch kehren: Es ist noch keine hundert Jahre her, dass Frauen in Deutschland das erste Mal wählen durften. Im Kaiserreich waren nur Männer über 25 wahlberechtigt. Für Frauen war der Gang an die Wahlurne tabu. Erst am 19. Januar 1919 durften Frauen in Deutschland das erste Mal die Nationalversammlung wählen. Sie hatten – nach einem langen, langen Kampf – endlich das aktive und passive Wahlrecht. Die Sozialdemokratinnen Schwesig und Schmidt sollten das eigentlich wissen. Schließlich war ihre Partei die erste, die 1891 das Wahlrecht für Frauen forderte. Die Errungenschaft währte nur 14 Jahre. 1933, als die Nazis an die Macht kamen, waren politische Ämter für Frauen tabu. Zwar durften Frauen wählen, nicht aber kandidieren. Doch es gab Ideen, Frauen ein nach ihren »Leistungen in der Mutterschaft« gestuftes Wahlrecht zuzugestehen.

Und nun, keine 100 Jahre, nachdem Frauen das erste Mal in Deutschland wählen durften, denken eine sozialdemokratische Familienministerin und andere hochrangige Politiker laut über ein Familienwahlrecht nach, das das Wahlrecht kinderloser Frauen und Männer beschneiden würde. Sie wollen Frauen erst zu vollwertigen Wählerinnen machen, wenn sie Kinder bekommen haben. Und je mehr Kinder eine Frau bekommen hat, desto mehr wiegt ihre Stimme. Natürlich gilt das auch für Männer. Es gibt sogar mehr kinderlose Männer als Frauen in Deutschland. Doch Frauen tragen das höhere existenzielle Risiko, wenn sie Kinder kriegen. Ja, liebe Eltern, für euch mag es auf den ersten Blick verlockend klingen, mehr Stimmen und Macht zu haben. Aber vielleicht habt auch ihr Söhne und Töchter, die sich eines Tages das Recht nehmen, keine Kinder zu bekommen. Wollt ihr, dass sie deshalb in diesem Land weniger zu sagen haben und dass man ihnen elementare Rechte streitig macht? In Wirklichkeit wollen die Befürworter mit dieser Idee nur gut Wetter machen bei den Eltern. Und um ihre Stimmen werben. Ist ja Wahlkampf.

Der Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch: „Vögeln fürs Vaterland? Nein danke. Bekenntnisse einer Kinderlosen", erschienen im Westend-Verlag.

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