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Familienhelferin: Die Frau, die Kindern eine Zukunft gibt

Familienhelferin Inge Roth hat einen der wichtigsten Jobs in unserer Gesellschaft: Eltern dazu zu bringen, ihre Kinder gut zu behandeln. Wie nötig das ist, zeigt eine neue Statistik: Rund 38.000 Kinder in Deutschland sind nach Angaben der Jugendämter gefährdet.

Bilanz 2012: Jugendämter stufen 38.000 Kinder als gefährdet ein

Familienhelferin: Die Frau, die Kindern eine Zukunft gibt
© iStockphoto/Thinkstock

Vernächlässigt, geschlagen, missbraucht - immer wieder müssen die Behörden Familien wegen des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung prüfen. Wie viele Fälle es insgesamt in Deutschland gibt, war bislang nicht genau bekannt. Nun hat das Statistische Bundesamt zum ersten Mal alle Zahlen der deutschen Jugendämter erfasst (mit Ausnahme von Hamburg, das sich nicht an der Erhebung beteiligte). Demnach haben die Beamten im Jahr 2012 rund 107.000 Fälle möglicher Kindeswohlgefährdung geprüft. Bei 38.000 Familien, also etwa einem Drittel, bestätigte sich der Verdacht. 17.000 Kinder oder Jugendliche waren sogar akut gefährdet.

Von Kindeswohlgefährdung spricht man, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes erheblich geschädigt ist oder eine solche Schädigung mit Sicherheit zu erwarten ist. 2012 wiesen zwei Drittel der gefährdeten Kinder Zeichen von Vernachlässigung auf, 26 Prozent wurden psychisch und ein Viertel körperlich misshandelt. Etwa fünf Prozent litten unter sexueller Gewalt.

Von Problemen in Familien erfahren die Jugendämter von verschiedenen Seiten: Mit 17 Prozent meldeten sich Polizei, Gericht und Staatsanwaltschaft am häufigsten bei den Behörden. In 14 Prozent der Fälle kam der Hinweis von Bekannten oder Nachbarn, in 13 Prozent von Schulen oder Kindergärten. Etwa jeder zehnte Hinweis war anonym.

Wie schwer es ist, Familien mit schweren Problemen zu unterstützen, weiß die Familienhelferin Inge Roth. Ihre Aufgabe ist es, Eltern dazu zu bringen, ihre Kinder gut zu behandeln. BRIGITTE hat sie bei ihrer Arbeit begleitet.

Familienhelferin: Die Frau, die Kindern eine Zukunft gibt

Familienhelferin: Die Frau, die Kindern eine Zukunft gibt
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Eine Reportage von BRIGITTE-Redakteurin Meike Dinklage.

Tag und Nacht saß Herr Schewe* an dem kleinen Tisch im Durchgang zum Badezimmer und spielte Computerspiele. Immer in Shorts, Kette rauchend. Nico, 15, hat ihm dabei zugesehen. Wie sein Vater alles wegballerte, aber nie aus seinem Stuhl hochkam. Irgendwann hat er angefangen, die Dinge selbst zu regeln. In der Schule, auf der Straße. Fünf Mal hatte er im letzten Jahr Ärger mit der Polizei, gefährliche Körperverletzung, Nötigung.

Inge Roth hat Nico und seine Mutter jedes Mal zur Aussage bei der Polizei begleitet. Seit eineinhalb Jahren kommt sie in die Familie, für fünf Stunden die Woche. Sie parkt ihren blauen Ford auf der Einfahrt, sagt ihrem Terrier Juri, er soll im Auto warten. Dann klingelt sie. Es ist Mittwoch, zehn Uhr, die Schewes sind ihre erste Familie heute. Frau Schewe wartet schon, sie gehen ins Wohnzimmer, das eher ein mit Möbeln versehener Flur ist; abends räumen die Schewes die Matratzen, die im Durchgang an der Wand lehnen, auf den Boden und schlafen darauf. Herr Schewe sitzt im Sessel, den Blick halb zum Fenster gewandt, an dem die Hauptstraße dicht vorbeiführt. Er trägt Shorts, auch jetzt, im Winter. Auf dem Tisch eine Kaffeekanne, Kondensmilch und die letzten Schreiben vom Amt. Herr Schewe ist lungenkrank, er kann nur noch ein paar Schritte gehen. Das kalte Nikotin hängt grau in den Ecken, sie wollen renovieren, aber bisher haben sie keinen Anfang gefunden.

Das System Familie kann, wenn es krank ist, furchtbar sein.

Nico ist in der Schule, das erste Mal, seit er vor zwei Monaten einen Mitschüler krankenhausreif geschlagen hat. Der andere Junge habe ihn provoziert, "gemobbt", sagt Frau Schewe, und es klingt so, als wäre das Grund genug. Die Lehrerin hat Nico vom Unterricht suspendiert, der andere Schüler hat ihn angezeigt, das Verfahren läuft noch.

2011 kümmerten sich Familienhelfer in Deutschland um rund 208.000 Kinder und Jugendliche, jede Woche ein paar Stunden. Die Jugendämter gaben dafür rund 741 Millionen Euro aus. Man hört nur dann davon, wenn etwas passiert: Die zweijährige Zoe aus Berlin wurde 2012 zu Tode geprügelt, obwohl sich zwei Familienhelferinnen um die Mutter kümmerten; noch am Tag vor Zoes Tod waren sie dort. Die leiblichen Eltern von Jeremie, dem Jungen aus dem Wanderzirkus in Hamburg, hatten jahrelang Familienhilfe, und trotzdem landete der schwer traumatisierte Junge in einer Pflegefamilie, die mit ihm überfordert war. Auch die Mutter des dreijährigen Jungen, der letzten Herbst in einem Keller in Bad Segeberg gefunden wurde, bis zu den Knöcheln im Dreck, hatte Familienhilfe - die Helferinnen hatten den Jungen bei jedem Besuch gesehen, angezogen und wohlauf, sie wussten nichts von einem Keller, in den die Mutter das Kind nach jedem Besuch zurückbrachte. Das System Familie kann, wenn es krank ist, furchtbar sein.

"Ich arbeite auf dünnem Eis", sagt Inge Roth. "Man weiß nie sicher, was wirklich in einer Familie vor sich geht, egal, wie gut man sie kennt." Ob es da Missbrauch gab oder gibt oder ob ein Mädchen, das sich zurückzieht, ihren Selbstmord plant, auch wenn Inge Roth gestern noch mit ihr auf dem Jahrmarkt war. Es gibt Familienhelferinnen, denen so etwas passiert ist; Inge Roth kennt Kolleginnen, die deswegen dauerhaft arbeitsunfähig sind. Das ist ihr Risiko.

* Namen der Familien geändert

Familienhilfe ist eine Grauzone, in die eine ratlose, unsichere Gesellschaft ihre schwierigste Aufgabe auslagert: dafür zu sorgen, dass ihre Kinder gut behandelt werden. Dafür schickt sie ihre Stellvertreterinnen. Wenn etwas passiert, dann haben sie versagt, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Das ist das Dilemma der Familienhilfe, und es ist das persönliche Dilemma jeder einzelnen Helferin: Niemand ist so nah am Brandherd und doch oft so machtlos zu löschen. Denn Familienhilfe heißt nicht: Familientherapie. Sie heißt auch nicht: Polizei spielen, Eltern unter Druck setzen, durchgreifen. Sie heißt: Vertrauen aufbauen, Eltern dazu bringen, dass sie kooperieren, ihnen helfen, damit sie ihren Kindern Halt geben können. Sie heißt: sehr vorsichtig zu sein, tastend, denn für die Familien ist die Helferin erst einmal eine vom Jugendamt, und nicht alle verstehen, dass das Amt in diesem Fall auf ihrer Seite ist.

Inge Roth, 58, ist Diplompädagogin und Psychotherapeutin, eine kluge, maßvolle Frau, die seit Jahren mit Jugendlichen und Straftätern arbeitet und das staatliche Hilfesystem und seine Beschränkungen sehr genau kennt. Sie ist geschieden, hat drei erwachsene Kinder und lebt in einem kleinen Ort bei Kiel. Nah an der Autobahn, das ist für sie wichtig, sie hat eine Praxis in Kiel und Familienhilfe-Jobs bis hinunter nach Hamburg. Von der Praxis allein kann sie nicht leben, sie muss dazuverdienen, aber Familienhilfe ist keine Notlösung für sie, sie liebt diese Arbeit.

Inge Roth findet, dass die Öffentlichkeit verstehen muss, an welcher Stelle das System krankt.

Die Widersprüche der Familienhilfe kann sie sehr präzise benennen, aber das macht sie nicht zur Zynikerin. Wenn man sie zu einigen ihrer rund ein dutzend Familien, die sie derzeit betreut, begleitet, dann spürt man, wie viel Empathie sie mitbringt. Und wo man selbst schnell werten und Schuld zuweisen will - Eltern, die ihre Kinder verdrecken lassen, Mütter, die die Gewaltausbrüche ihrer Männer decken -, da sagt sie: "Es lastet sehr viel auf dieser Familie." Dass sie zur Hauptperson dieser Geschichte wurde, hat mit ihrem Mut zu tun, ehrlich über die Zwänge ihrer Arbeit zu reden. Sie findet, dass die Öffentlichkeit verstehen muss, an welcher Stelle das System krankt. Weil sie will, dass es besser wird.

Inge Roth steht am Ende einer Kette, über die das Jugendamt seine ureigenste Aufgabe, die Sorge um das Wohl der Kinder, immer weiter privatisiert. Familienhelfer sind fast immer Honorarkräfte, die fallweise von freien Trägern engagiert werden. Allein im Kreis Rendsburg- Eckernförde gibt es mehr als 30 dieser Träger, öffentliche wie die Diakonie oder die "Brücke" und private, die rein kommerziell orientiert sind; in einer Stadt wie Berlin gibt es fast 800.

Die Träger sind eine Art Agentur, sie buhlen untereinander um die Verträge mit den Jugendämtern, für die es billiger ist, die Hilfe auszulagern, als ihre eigenen Leute zu schicken. Nicht alle Träger werden kontrolliert, manchmal reicht ein bunter Flyer, der "Erfahrung" und "Vielfalt und Werte" verspricht, um vom Amt beauftragt zu werden. Inge Roth steht bei mehreren Trägern unter Vertrag. Mit dem Jugendamt selbst soll sie, auch bei Problemen, nach dem Willen der meisten Träger möglichst wenig Kontakt aufnehmen. Sie sagt: "Die Vorstellung, dass da ein Jugendamt seine schützende Hand über unsere Arbeit oder die Familien direkt hält, geht an der Realität vorbei." Es wäre einfacher für sie, wenn sie mitentscheiden könnte, was eine Familie braucht. Sie ist vor Ort, sie erlebt es. Aber wenn sie kommt, hat das Jugendamt den Hilfeplan, der festlegt, was in einer Familie zu tun ist, schon aufgestellt. Sie soll ihn einfach möglichst geräuschlos abarbeiten. Wenn sie findet, dass der Plan an den eigentlichen Problemen vorbeigeht - die Mutter mit einer früheren Gewaltbeziehung nicht zurechtkommt oder sich verschuldet -, kann sie nicht viel machen. "Das Jugendamt sieht vor allem die Symptome: Das Kind schwänzt, ist dreckig, ist gewalttätig. Aber in der Familie kriegt man es immer mit dem Unterbau zu tun." Da fängt der Spagat an, sagt Inge Roth.

Ihren ersten Job fand sie vor fünf Jahren über eine Zeitungsanzeige. "Da stand: ,Ambulante pädagogische Kräfte auf Honorarbasis gesucht‘, ich bin dann ohne weitere Einweisungen oder Schulungen in die ersten Familien geschickt worden", sagt sie. "Alles, was ich heute weiß, habe ich mir selbst angeeignet."

Die meisten Familien, in die sie geht, wollen Hilfe, sie haben sich von sich aus beim Jugendamt gemeldet; sie sind die minder schweren Fälle, weil bei ihnen das Kindswohl nicht direkt gefährdet ist und man sie stabilisieren will, damit das so bleibt. Das Amt hat mit ihnen eine Art Vertrag geschlossen: Die Familie muss ihre Mithilfe zusichern und das Ziel der Hilfe mit eigenen Worten formulieren: "Ich tue alles, damit Kevin die Schule schafft" oder "Ich gehe friedlicher mit meinen Kindern um". Um diesen Satz geht es dann in dem zunächst auf sechs Monate befristeten Hilfeplan; er ist der einzige definierte Auftrag der Familienhelferin. An ihm wird sie gemessen, und über ihn sichert sich das Jugendamt dagegen ab, wegen anderer Schieflagen in der Familie belangt werden zu können. "Es gibt Jobs, da lautet die Vereinbarung: ,Ich will meine Kinder anständig versorgen‘, und man guckt an drei Tagen die Woche, ob der Kühlschrank voll ist - sonst nichts", sagt Inge Roth. Solche Jobs lehnt sie ab.

Frau Schewe hat sich vor zwei Jahren beim Jugendamt gemeldet. Die Zielvereinbarung lautete: "Nico soll die Schule vernünftig abschließen." Die Förderschule ist seine letzte Chance auf einen Abschluss, aber es sieht nicht gut für ihn aus. "Er kämpft mit seinem Temperament", sagt seine Mutter. Bei einer Klassenfahrt ist er abgehauen, das Verhältnis zur Klassenlehrerin wird immer aggressiver. Sie hat ihn nach der letzten Schlägerei vom Unterricht suspendiert, er sollte auf eine andere Schule gehen, aber es war absehbar, dass es dort wieder Ärger geben würde. Inge Roth ist es gelungen, dass die Strafe in 14 Tage Arbeitsdienst auf einem Friedhof umgewandelt wurde, aber Nico war so oft nicht da, dass schließlich zwei Monate vergingen.

Jetzt, an seinem ersten Tag, will die Klassenlehrerin, dass Nico etwas Nettes über den Jungen sagt, den er verprügelt hat, das hat sie Frau Schewe gestern mitgeteilt. "Etwas Nettes über den." Frau Schewe schüttelt den Kopf.

Inge Roth hat immer wieder Nicos Gespräche mit seiner Lehrerin, der Rektorin und seiner Mutter moderiert. Sie wollte Frieden in die Beziehung bringen. Nachdem die Hilfe verlängert wurde, lautet die Zielvereinbarung nun: "Nico soll lernen, ohne Gewalt zu leben." - "Entscheidend ist", sagt Inge Roth den Schewes, "wie Nico künftig mit seiner Wut umgeht." Ach, sagt Herr Schewe, im Sessel, das Gesicht zur Straße gewandt, "man kann ja nicht immer nur einstecken. Man muss mal zeigen, wer was zu sagen hat." Inge Roth antwortet ruhig. "Nico muss lernen, andere Methoden als Gewalt zu finden, Herr Schewe", sagt sie. Der Vater blickt zum Fenster.

Inge Roth hört der Familie einfach zu - sonst macht das keiner.

Zwei Stunden bleibt sie bei den Schewes, ist einfach da. Viel mehr macht sie nicht. Es reicht, weil ihnen niemand sonst zuhört. Sie fangen von sich aus an zu erzählen. Dann hakt Inge Roth ein, sie drängt sich weder mit Ratschlägen noch Forderungen auf, sondern fragt: Was denken Sie, was man tun kann? Als Frau Schewe schon im Aufbruch zu ihrem Mini-Job als Verkäuferin ist, erzählt ihr Mann noch, dass er gern schwimmen gehen würde, aber kein Geld für den Bus hat und auch nicht fürs Hallenbad. Inge Roth verspricht, sich was zu überlegen. Wenn sie findet, dass jemand etwas zum Besseren ändern will, unterstützt sie ihn, in diesem Fall mit Freikarten fürs Hallenbad, die sie irgendwie besorgt, auch wenn die Gesundheit von Herrn Schewe sie formal nichts angeht. Hinterher sagt sie, dass es sie sehr beeindruckt, wie diese Familie um ihre Würde kämpft.

Ich bin darauf angewiesen, dass die Familien meine Arbeit loben - davon hängt mein nächster Job ab.

Kommt in einer Familie tatsächlich ein Kind zu Schaden, dann verschärft das Jugendamt seine Bürokratie, und das spürt Inge Roth dann. Wie im letzten Herbst, nachdem der verwahrloste Junge in Bad Segeberg gefunden wurde. Bei den Familienhelferinnen wachsen dann die Kontrollauflagen. Monatlich muss jetzt ein Einschätzungsbogen ausgefüllt werden: Woran arbeite ich, ist die Familie kooperativ? "Aber was", sagt sie, "kann so ein Zettel ausrichten?" Alle sechs Monate wird sie selbst von der Familie vor dem Jugendamt und dem Träger beurteilt. "Ich bin darauf angewiesen, dass die dann sagen, es läuft toll, mein nächster Job hängt davon ab", sagt sie. "Ich kriege schon Ärger, wenn einer sagt, ich komme manchmal zu spät. Ich bin Kontrolleurin und Kontrollierte." Wieder so ein Spagat. Den Träger interessiert vor allem, dass ein Fall formal gut abgearbeitet wird, sein Image hängt davon ab und damit sein kommerzieller Erfolg.

Gut 10 Euro verdient Inge Roth pro Stunde, netto. Sie bekommt nur die Stunden bezahlt, die das Jugendamt an Hilfe in der Familie angesetzt hat. Dass sie in einer ländlichen Region unterwegs ist, oft eine Stunde von Fall zu Fall mit ihrem Auto fährt, quer durch das südliche Schleswig-Holstein, ihren kleinen Terrier Juri im Kofferraum; dass Benzinkosten anfallen und Telefonkosten; dass sie mal kleine Geschenke mitbringt und mit den Kindern was unternimmt; dass sie abends die Berichte schreibt und mit ihren Klienten telefoniert, weil sie ihnen ihre Handynummer gibt, obwohl sie es nicht müsste - all das wird nicht vergütet. Ihr Verdienst ist etwa so niedrig wie das Prestige ihres Jobs, der eigentlich nur zur Kenntnis genommen wird, wenn etwas nicht klappt. Sie fährt nie in Urlaub, macht keine Anschaffungen, ihr einziger Luxus ist das Haus mit Garten, das sie gemietet hat. "Klingt vielleicht komisch", sagt sie, "aber es ist mir wichtig, dass ich nicht so wohne wie meine Familien. Ich will keine lauten Nachbarn, keinen Müll im Treppenhaus."

Inge Roth stoppt kurz an einer Supermarktbäckerei und holt sich einen Kaffee, sie hat ein wenig Zeit bis zum Termin mit der nächsten Familie. Eine dreiviertel Stunde fährt sie über die Bundesstraße, hält dann vor einem einfachen Haus am Rand eines kleinen Dorfes. Wie heruntergekommen es ist, erkennt man erst, wenn man es betritt: Schimmel an den Wänden, das Badezimmer unbenutzbar, die Fenster zugig, die Zimmer angeordnet wie Durchgänge. Überall volle Beutel, die Wäsche türmt sich vor der Waschmaschine, es ist unklar, wo die Wohnung Ordnung unmöglich macht und wo die Mutter kapituliert hat. Zwei Teenager-Töchter hocken mit eingezogenen Köpfen auf dem unteren Stockbett. Nur die Küche strahlt etwas Wärme aus. Frau Eick*, Ende 30, hat Tee gemacht, Gummibärchen hingestellt, Inge Roth setzt sich auf die Bank vor dem Fenster. Sie zieht, wie bei den meisten Klienten, ihre Daunenjacke nicht aus, weil es in allen Häusern immer kalt ist.

Frau Eick ist krank, ihr erster Mann, Vater ihrer sechs Kinder, prügelte sie, bis die Polizei ihn aus der Familie holte. Ihr neuer Ehemann ist oft über Wochen auf Montage. Frau Eick lebt in Angst vor ihrem Ex-Mann, sie hat sich einen Rottweiler angeschafft, "als Machtdemonstration", sagt sie. Jedes ihrer Kin- der hat eigene Probleme, Depressionen, Isolation, eines der Mädchen hat eine Behinderung und wird in der Schule verprügelt. Frau Eick hat neulich unter der Dusche ihre blauen Beine gesehen, "aber da steht ja nicht dabei, wer’s war", sagt sie. Das Mädchen ist das einzige der Kin- der mit einer Realschulempfehlung.

Ich fühle mich sicher, wenn Frau Roth da ist.

Hierher kommt Inge Roth seit zweieinhalb Jahren, sie half, für den ältesten Sohn die richtige Rolle in der Familie zu finden, er spielte den Boss, inzwischen ist er ausgezogen und macht eine Lehre, "ich musste ihn ziehen lassen, damit er seine Orientierung hinkriegt", sagt Frau Eick. Die Probleme sind überwältigend, aber Inge Roth muss sich beschränken, sie stabilisiert die Mutter in einer Mischung aus Alltagshilfe und Seelsorge. "Mein Auftrag ist das Wohl der Kinder, und für sie ist es wichtig, wie viel Kraft die Mutter hat." Inge Roth hat mit ihr eine neue Wohnung gesucht, Frau Eick fühlte sich vom Vermieter bedroht. Sie hat mit ihr die Briefe geöffnet, die Frau Eick über Monate in einer Schublade versteckt hatte aus Angst vor den vielen Anträgen und Amtsschreiben. Inge Roth hilft, aber nicht mehr als nötig, sie will Frau Eick nicht in eine noch größere Unselbständigkeit treiben. Heute, beim Gespräch in der Küche, macht sie ihr einfach Mut und bremst sie, wenn sie sich in negativen Gedanken verliert. "Frau Eick, das ist hier kein Krisenstab, sondern eine Familie", sagt sie. "Dafür sitzen wir hier zusammen. Wir müssen genau gucken, wie viel Sie schaffen können."- "Ich fühle mich sicher, wenn Frau Roth da ist", sagt Frau Eick.

Manchmal würde es Inge Roth schon helfen, wenn einfach mal einer offen aussprechen würde, dass man einen kaputten Familienmotor nicht in einem halben Jahr reparieren und den Erfolg ihrer Arbeit nicht an abgearbeiteten Hilfeplänen messen kann. Wenn das ganze System aus überregulierter Hilflosigkeit auffliegen würde. "Das wäre der Verzicht auf ganz viel Bürokratie", sagt sie. "Das heißt, es wird nicht passieren." Mit manchen ihrer Klienten bleibt sie in Kontakt, auch lange über die Hilfe hinaus. Sie nennt sie ihre Veteranen. Mit dem Mädchen eines ihrer ersten Fälle zum Beispiel: "Sie war 13, hat in der Schule randaliert, ist mit dem Messer auf ihren Vater los, der sie windelweich geschlagen hat. Sie hätte gut im Knast enden können. Jetzt macht sie ein freiwilliges soziales Jahr in der Psychiatrie." Damals hat sie dem Mädchen gesagt: "Wenn wir deine Probleme bewältigen, kriegst du zum 18. Geburtstag eine Flasche Champagner von mir." Letzte Woche kam die Einladung.

Info: Arbeitsplatz Familie

Inge Roth, 58, ist Diplompädagogin und Psychotherapeutin, sie hat seit 15 Jahren eine eigene therapeutische Praxis in Kiel. Zur Familienhilfe kam sie über eine Zeitungsanzeige. Familienhilfe ist kein Ausbildungsgang, die meisten Helfer haben Sozialpädagogik studiert, immer öfter werden werden auch Erzieher beschäftigt.

Familienhilfe in Deutschland

Die Kosten: Bund, Länder und Gemeinden haben 2011 rund 30,5 Milliarden Euro für Erziehungshilfen und den Schutz von Kindern ausgegeben. Etwa ein Viertel flossen in die "Hilfen zur Erziehung", zu denen die sozialpädagogische Familienhilfe gehört: Sie kostete 2011 rund 741 Millionen Euro, das ist eine Steigerung um 36,9 Prozent seit 2008. Zugleich sanken die Kosten für die Heimunterbringung von Kindern - denn Ziel der Familienhilfe ist es auch, durch ambulante Besuche zu verhindern, dass ein Kind in Obhut genommen werden muss.

Wer Hilfe bekommt: 2011 hat sich die Familienhilfe um 208 670 Kinder und Jugendliche in den Familien gekümmert, in 43 390 Fällen wurden neu beginnende Leistungen gewährt. 52 Prozent der Empfänger waren alleinerziehend, 66 Prozent auf Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder Leistungen aus der Grundsicherung angewiesen.

Die Träger: Von den gestiegenen Ausgaben profitieren die freien Träger, die zu mehr als 80 Prozent die vom Jugendamt gewährten Hilfen durchführen. Allein in Berlin sind 780 freie Träger in der Erziehungshilfe aktiv, sie erhalten von der Stadt rund 411 Millionen Euro. In Hamburg fließen rund 234 Millionen Euro Erziehungshilfe an freie Träger. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz befürwortet diese Regelung; die Trägerlandschaft soll "vielfältige Inhalte, Methoden und Arbeitsformen" bieten.

Text: Meike Dinklage ein Artikel aus BRIGITTE Heft 7/2013

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