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Ex-Prostituierte erzählt "Es gibt keine freiwillige Prostitution"

Huschke Mau: eine Frau im gestreiften Shirt hält die Hände vor ihr Gesicht
© erika8213 / Adobe Stock
Zehn Jahre hat Huschke Mau als Prostituierte gearbeitet. Freiwillig, wie sie damals glaubte. Heute engagiert sie sich für ein Sexkaufverbot.

Huschke Mau ist wütend. Am Abend vorher hat sie die NDR-Talkshow "deep und deutlich" vorzeitig verlassen. Man kann die Szene im Netz anschauen. Bevor sie ihr Mikro abnimmt, sagt sie "Hier neben so privilegierten Leuten zu sitzen und mir so eine Scheiße anzuhören …" und marschiert aus dem Studio. Die "Scheiße", das waren die vielen teils naiven, teils offensiven Aussagen, die ihr, der Betroffenen, Prostitution erklären wollten. Die "Privilegierten" das Moderatorenduo und die Gäste, darunter Blogger Sascha Lobo, der, als es um ihr Thema ging, fast mehr Redeanteil hatte als sie selbst.

Am Morgen danach kommt sie genauso energisch in die Lobby eines Hamburger Hotels. Die Haare sehr blond, der Rock sehr kurz, das Gesicht stark geschminkt – "wasserfest zubetoniert", wie sie später, als trotz Tränen nichts verwischt, sagen wird. Sie habe in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Sich immer wieder gefragt, warum sie sich das eigentlich antue. "Doch die Frauen, die da bei minus fünf Grad an der Kurfürstenstraße in Mini-Shorts und mit einem blauen Auge stehen, der Zuhälter direkt dahinter, denn nur er spricht Deutsch – das ist real! In Diskussionen wie gestern und in der Gesellschaft aber spielen sie keine Rolle. Als wären sie keine Menschen!" Wut, sagt sie, sei ihr Antrieb. Wo solle sie sonst damit hin?

Huschke Mau ist ein Pseudonym, ein notdürftiger Versuch, ihre Gegenwart vor der Vergangenheit zu schützen. Ihre Gegenwart ist die Universität, an der sie mit Mitte 30 gerade ihre Doktorarbeit in einem geisteswissenschaftlichen Fach schreibt, und ihr Leben irgendwo in Ostdeutschland, den genauen Ort nennt sie nicht. Ihre Vergangenheit: eine Kindheit voller Gewalt durch den Stiefvater, Flucht aus dem Elternhaus mit 17, Aufenthalt in der Psychiatrie, mit 18 der erste Zuhälter – ein Polizist. Danach zehn Jahre als Prostituierte in Wohnungsbordellen und als Escort, Alkohol, Drogen.

Die Trigger sind geblieben

Das alles ist nichts, was man hinter sich lässt, selbst wenn unter den tätowierten Blumen auf ihren Armen kaum mehr zu sehen ist, wo sie sich früher selbst verletzt hat. Bis heute erträgt sie bestimmte Gerüche oder Geräusche nur schwer, ein spezielles Aftershave, Schmatzen oder stampfende Schritte auf einer Treppe sind Trigger, die sie in traumatische Erlebnisse zurückversetzen. Sie könne nicht so gut mit Menschen, sagt sie. Was sie mag: Tiere, Zeit in der Natur und Bücher. Am liebsten solche für Kinder und Jugendliche.

Auch nach außen hat Huschke Mau die Grenze zu ihrem Vorleben eingerissen. Seit 2014 engagiert sie sich für das sogenannte Nordische Modell, das Sexkaufverbot, das es unter Strafe stellt, Menschen für sexuelle Dienste Geld zu bieten oder zu zahlen. Sie hat das Netzwerk Ella, einen Zusammenschluss von Frauen aus der Prostitution, gegründet, der Aussteigerinnen teilweise auch finanziell unterstützt. Und sie hat ihre Geschichte aufgeschrieben (siehe unten). "Es ist super unangenehm, durch die Uni zu gehen und sich vorzustellen, dieser oder jener Professor hat davon gelesen und mich erkannt", sagt Huschke. "Aber es ist auch befreiend, darüber zu sprechen und die Wut rauszulassen. Das kann man erst, wenn man draußen ist."

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Huschke Mau: "Entmenschlicht: Warum wir Prostitution abschaffen müssen"
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Dabei sei sie "noch eene, die relativ gut weggekommen ist", wie sie in ihrem Duktus, dem man das Ostdeutsche anmerkt, sagt. "Als ich das Buch geschrieben habe, kam alles wieder hoch. Aber ich will, dass Leute nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen begreifen, was es bedeutet, sich prostituieren zu müssen." Studien, die sie zitiert, besagen, dass 83 Prozent der Frauen in der Prostitution ein Kindheitstrauma durch familiäre Gewalt bzw. Missbrauch haben, neun von zehn einen Zuhälter, bei bis zu 90 Prozent liegen deutliche Merkmale von Zwangsprostitution vor, zwischen 80 und 90 Prozent der Prostituierten kommen aus dem Ausland. Frage man Frauen in der Prostitution, was sie am dringendsten bräuchten, antworten 89 Prozent "einen Ausstieg".

Das Ausnutzen einer Notlage

"Prostitution ist immer das Ausnutzen einer Notlage", sagt Huschke. Die Frauen wollen keinen Sex, sie brauchen das Geld: für ihre Miete, ihren Zuhälter, Alkohol, Drogen. Geld aber könne niemals sexuellen Konsens ersetzen. "Freier nehmen es hin, mit einer Frau zu schlafen, die eigentlich gar nicht mit ihnen schlafen will – und das ist klar Missbrauch." Das gelte für die, die sie erniedrigt, brutal behandelt und sich an ihren Schmerzen und Tränen aufgegeilt haben, genau wie für die, die sie retten wollten, weil sie "zu gut fürs Bordell" sei. Freier zu bestrafen, wie es das Nordische Modell vorsieht, ist da nur die logische Konsequenz.

Wer diese Aussagen das erste Mal hört, ist meist irritiert. Vermutlich noch einmal mehr in einem Land, das in Sachen Prostitution eine sehr liberale Gesetzgebung hat und unter Expert:innen als "Bordell Europas" und "Menschenhandelszielland Nummer eins" gilt. In dem die Polizei zwar ins Wohnungsbordell kommt, in dem Mau für einen mehrfach vorbestraften Intensivtäter anschaffte, der einige "seiner" Frauen tätowierte wie ein Stück Vieh, aber die Beamten die Frauen nicht fragen, wie es ihnen gehe und wo die blauen Flecken herkämen, sondern nach der Ausweiskontrolle nur erklären, sie müssten ihre Einnahmen versteuern.

Huschke Mau kennt die Argumente gegen das Nordische Modell, auch in der Talkshow wurde sie wieder damit konfrontiert: Was denn mit denen sei, die den Job freiwillig ausübten. "Jede darf mit ihrem Körper tun, was sie will. Aber diese eine Frau, die das irgendwo in Berlin gerade fancy findet und der ich das auch gönne, ist eine totale Minderheit", sagt sie. Auch sie selbst habe ihren Entschluss, sich zu prostituieren, lange als freiwillig aufgefasst. Aber wie selbstbestimmt könne man entscheiden, wenn man von klein auf gelernt habe, dass Frauen nur für das eine gut seien und man selbst sowieso nichts wert? Natürlich fühle es sich dann erst mal an wie Macht, nun zumindest Geld dafür zu bekommen. Doch bald seien da nur noch Scham und Ekel und Drogen und Alkohol, um sich zu betäuben. Warum sie nicht einfach gegangen sei, ihren Zuhälter nicht angezeigt habe, wurde sie gefragt. Für sie sind es Fragen aus einer anderen Welt: "In der Prostitution ist man nur mit Überleben beschäftigt."

Eine Katze als Rettung

Huschkes Rettung war Alvin. Als sie über ihn spricht, muss sie weinen und das Gespräch kurz unterbrechen. Der Kater ist vor Kurzem mit fast 15 gestorben. "Es war nicht so, dass ich mir gesagt hätte, ich selbst habe Besseres verdient. Woher sollte dieses Selbstwertgefühl kommen? Aber dieses Katzenbaby, das die Bordellchefin anschleppte und viel zu früh von der Mutter getrennt worden war, war es mir wert."

Für ihn will sie Sicherheit schaffen. Für ihn beginnt sie den Ausstieg. Er dauert lange, immer wieder fällt sie in alte Muster zurück, zu stark ist ihr Trauma, zu fragil noch der neue Alltag. Erst von Alvin lernt Huschke, dass man essen darf, wenn man hungrig ist, und schlafen, wenn man müde ist. Was es heißt, zärtlich zu sein. Und was, Grenzen zu ziehen und zu fauchen, wenn jemand sie übertritt.

"Anscheinend bin ich wirklich raus, bis heute und hoffentlich noch länger", schreibt sie in ihrem Buch. "Für immer" würde sie nie sagen. Sie hat schließlich von Anfang an die Erfahrung gemacht, dass jederzeit Schlimmes geschehen kann und andere Menschen Macht über sie haben. "Wer sagt mir denn, dass ich nicht in zehn Jahren mit drei Kindern arbeitslos im Plattenbau sitze und diejenige bin, der der Strom abgestellt wird?

Ich höre fast täglich von Frauen, die genau deswegen wieder vor der Wahl stehen, anschaffen zu gehen. Jede Frau trennen von der Prostitution nur ein paar glückliche Umstände.

Bis zu 1,2 Millionen Männer gehen in Deutschland zu Prostituierten – jeden Tag. "Das sind unsere Brüder, Chefs, Freunde, Männer", sagt Huschke Mau. Auch deswegen gehe Prostitution alle an. "Die Frage ist doch: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der Frauen Ware sind und in der Männer sagen: Ich habe letzte Woche mit einer geschlafen und ich weiß gar nicht, ob die das eigentlich wollte, und es ist mir auch egal?" Natürlich sei es bequem, sich damit nicht auseinanderzusetzen und stattdessen Prostitution als Feigenblatt zu nutzen, um sich als progressiv definieren zu können. So wie in der Talkshow.

Dass sie das Studio verließ, war keine Flucht vor einer Diskussion, die ihr wehtut. Es war nicht die Wut, mal wieder nicht gehört zu werden. Es war vor allem diese Freiheit: aufzustehen und zu gehen.

Ihren echten Namen nennt Huschke Mau lieber nicht. Huschke bezeichnet im ostpreußischen Dialekt eine Frau, die nicht richtig da ist. Mau gab ihr Kater dazu.

Das Nordische Modell

1999 führte Schweden als erstes Land ein Sexkaufverbot ein. Sich zu prostituieren stellt keine Straftat dar, stattdessen werden Freier, Zuhälter und Bordellbetreiber bestraft. Dazu kommen Ausstiegshilfen, Prävention und Aufklärung. Es gilt heute in Varianten u. a. in Irland, Kanada und Frankreich. Die EU forderte 2014 die Mitgliedstaaten auf, Freier zu bestrafen; auch freiwillige sexuelle Dienstleistungen gegen Bezahlung würden die Menschenwürde verletzen. In Deutschland haben sich u. a. Juristinnenbund und Diakonie, aber auch Prostituiertengruppen wie Hydra gegen ein Sexkaufverbot positioniert.

Die ganze Geschichte In "Entmenschlicht" (432 S., Edel Books) erzählt Huschke Mau schonungslos aus ihrem Leben und vom System Prostitution.

Brigitte

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