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Was Europa für mich bedeutet - Frauen erzählen

Was Europa für mich bedeutet - Frauen erzählen
© Europakarte: Bagusat/ Fotolia.com
Ein ganzer Kontinent wählt ein neues Parlament. Mehr Freiheit oder zu viele Zwänge? Wir haben Frauen aus verschiedenen Ländern gefragt, was Europa für sie bedeutet.

Christina Gierse aus Frankreich: Die mobile Generation

Für mich ist Europa selbstverständlich. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Spanier, ich bin in Paris geboren und lebe auch hier. Die jungen Franzosen sind nie so mobil gewesen wie heute: Viele studieren oder jobben im Ausland, überwiegend in Europa. Der Anteil wächst kontinuierlich seit zehn Jahren. Dabei ist die hohe Arbeitslosenzahl in Frankreich nicht der einzige Beweggrund. Diese Generation wird im Verlauf ihres Berufslebens ganz selbstverständlich von einem Land ins andere pendeln.

Was Europa für mich bedeutet - Frauen erzählen
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Europa hat es während der Finanzkrise geschafft, mehrere Bankpleiten zu verhindern. Das zeigt, dass Europa funktionieren kann. Die größte Schwierigkeit scheint zu sein, Kompromisse zu finden.

Ich denke, dass die EU für Frankreich positiv ist. Manche erleben den Rahmen, den die EU vorgibt, allerdings als eineingend - ich sehe ihn eher positiv. Aktuell spielt Deutschland eine führende Rolle, und das ist auch gut so, denn Europa darf nicht den Eindruck erwecken, führungslos zu sein. Ich glaube allerdings, dass Deutschland diese Rolle langfristig nur dann spielen kann, wenn auch die anderen Länder in der Lage sind, sich aktiv zu beteiligen.

Das Problem in Frankreich ist, dass viele Leute Deutschland nicht gut genug kennen, vor allem die älteren Generationen. Der Boom von Berlin als hippes touristisches Ziel sorgte zwar in den letzten Jahren dafür, dass es nun ein realistischeres Bild der Deutschen gibt, jenseits von Klischees. Inzwischen ist das Verhältnis der Franzosen zu Deutschland nuancierter, weniger hysterisch und vor allem reifer. Ich teile diese Sicht. In Frankreich ist nicht alles schwarz – und in Deutschland nicht alles rosarot.

Ylva Dantuma aus den Niederlanden: Weniger Klein-Klein

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Für mich ist Europa eine Chance, etwas von größerer Bedeutung zu schaffen. Die EU ist in der Lage, auf Augenhöhe mit Russland, den USA, der Afrikanischen Union usw. zu sprechen. Aber sie sollten aufhören, französischen Molkereien vorzuschreiben, wie sie ihren Käse machen sollen. Das ist lächerlich.

Die EU ist in der Lage, ihre Mitgliedsstaaten zu verklagen, wenn sie gegen Menschenrechte verstoßen. Sie ist für mich wie ein Wachhund, der Stabilität und Sicherheit bringt. Auch der Euro ist großartig, er macht vieles einfacher.

Leider scheinen die Niederlande die EU vor allem unter dem Motto "Was ist für uns drin?" zu betrachten. Ich hoffe, dass sich das noch ändert, hin zu einer sozialeren Einstellung und zu einer Diskussion, die uns besser zu Gesicht steht. In der Europäischen Union muss es fair und gleichberechtigt zugehen, davon können wir alle profitieren. Aber das wird nicht passieren, wenn alle nur raffen und raffen.

Lilian aus Großbritannien: Viele Kompromisse

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Europa ist für mich ein aufregender Ort. Ein Schmelztiegel der Kulturen, Sprachen und Geschichten. Wir sind ein vielfältiger Kontinent, und ich denke, dass die EU einiges tut, um die Kulturen zusammenzubringen, sei es in der Wirtschaft oder der Bildung. Allerdings glaube ich, dass den Menschen in Großbritannien nicht klar ist, wie wichtig die EU gerade im Bereich Handel und Finanzen für uns ist. Die EU ist ein einzigartiges Gebilde, das sich noch entwickelt und für das die Regeln erst nach und nach aufgestellt werden. Ich glaube, das macht es für viele Menschen schwer zu verstehen, was die EU macht. Daher kommt es in Großbritannien oft zu negativen Schlagzeilen.

Ich persönlich glaube, dass es für uns wichtig ist, Mitglied in der EU zu sein und dass wir gemeinsam auch Krisenzeiten überstehen werden. Deutschland ist der wirtschaftliche Motor Europas, und darum ist es richtig, dass es die Führung in der Europapolitik übernimmt. Kanzlerin Merkel muss dabei versuchen, die Wähler zuhause und gleichzeitig die EU-Mitgliedsstaaten glücklich zu machen. Ich beneide sie nicht um ihre Rolle, denn das erfordert viele Kompromisse. Ich denke, dass sich die anderen Länder schon zu Wort melden, wenn Deutschland keinen guten Job machen würde.

Evrydiki Bersi aus Griechenland: Das Gift der Krise

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Europa bedeutet für mich viel mehr als die Europäische Union. Meine Generation fühlt sich den Gleichaltrigen in anderen Ländern näher, als es in unserer Elterngeneration der Fall war. Doch was die Verantwortlichen in Brüssel derzeit tun, ist katastrophal: Sie vergiften die Beziehungen der jungen Europäer untereinander, um zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist: einen Umgang mit der Krise, von dem ausschließlich die Eliten profitieren.

Trotz aller schönen Worte von Frieden und Versöhnung hat die europäische Gemeinschaft mit Solidarität unter den Völkern nichts zu tun. Der katastrophale Umgang mit der Euro-Krise geht nicht auf ein Missgeschick, sondern auf Vorsatz zurück. Die Politik der EU in den Randstaaten setzt offenbar auf eine "kreative Zerstörung" und darauf, ganze Länder gleichsam dem Erdboden gleichzumachen – zum Nutzen der jeweils Stärkeren, die daraus wirtschaftliche Vorteile ziehen können. Im Moment treffen die Folgen dieser Politik vor allem die Bevölkerung der Randstaaten, doch früher oder später werden auch die Menschen in Deutschland die "Umverteilung nach oben" zu spüren bekommen. Evrydiki Bersi ist Journalistin und Mutter von zwei Kindern. Sie hat in Athen Kommunikation und Medien studiert und ein Journalismusstudium in Utrecht und Aarhus angeschlossen. Seit elf Jahren ist sie Redakteurin bei der angesehenen Athener Tageszeitung "Kathimerini", die auch in englischer Sprache erscheint (www.ekathimerini.com)

Giulia Evolvi aus Italien: Großartiges Projekt

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In der Grundschule dachte ich bei dem Wort "Europa" vor allem an die Landkarte, die bei uns im Klassenzimmer hing. Es war eine staatliche Schule mit kleinem Budget für Unterrichtsmaterial. Auf der Karte existierten noch die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Jugoslawien. Auf einer Reise in die Schweiz bekam Europa für mich eine neue Bedeutung - als ich merkte, dass es keinen Zoll mehr gab. Auch unter den Abkürzungen wie EGKS, EWG und EU verstand ich allmählich mehr.

Ich habe mich die meiste Zeit meines Lebens italienisch gefühlt. Das änderte sich, als ich für ein Erasmus-Semester nach Paris ging. Meine Freunde in Italien haben mir damals oft gesagt, solch ein Austauschprogramm sei Zeitverschwendung - nur Partys und kein richtiges Studieren. Für mich war die Zeit aber viel mehr: Ja, ich habe viel Spaß gehabt. Aber ich habe auch vieles gelernt, was ich in keinem Lehrbuch gefunden hätte. Meine Mitbewohnerin kam aus Deutschland, meine Mittagspause verbrachte ich mit einer Spanierin, in der Uni saß ich neben Franzosen und abends haben wir alle zusammen gefeiert. Ich habe plötzlich verstanden, warum die EU Geld in uns investiert, Studenten mit großen Träumen und einer vagen Zukunft: Wir waren die Generation, die sich spontan in ein Flugzeug gesetzt und Europa ein neues Gesicht gegeben hat.

Vor zwei Jahren bin ich zum Promovieren in die USA gezogen. Als ich zum ersten Mal mit meinen amerikanischen Kollegen ausging, fiel ihnen meine ordentliche Kleidung auf und dass ich Pommes mit der Gabel esse. "Du bist so europäisch!", sagte einer von ihnen. Ich habe das als Kompliment gesehen, denn nachdem ich zwei Jahre in Brüssel für eine NGO an europäischen Projekten mitgearbeitet habe, fühlte ich mich wirklich als Teil einer großartigen europäischen Generation.

Ich bin keine Ökonomin, aber ich weiß wie wichtig es für Italien ist, zu Europa zu gehören. Nicht nur, weil die EU mir so viele Möglichkeiten gegeben hat, sondern weil wir die Freizügigkeit von Menschen und Waren brauchen. Wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik und Strategien für Themen wie Einwanderung oder Religionsfreiheit. Wir haben eine einzigartige europäische Kultur aus vielen Sprachen, Stimmen und Gesichtern. Es ist unsere Aufgabe, zu dieser Kultur etwas beizutragen.

Barbara Baminger aus Österreich: Mehr Transparenz

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Für mich ist Europa so eine Sache: Auf der einen Seite verbinde ich damit schöne Erinnerungen an mein Erasmus-Jahr in Frankreich und meine Auslandserfahrungen im Job. Ich habe sowohl in Brüssel als auch in Stockholm gelebt. Dank der EU war es einfach, von einem Ort zum anderen zu ziehen - vor allem innerhalb des Euro-Raums. Das ist eine wunderbare Chance und Möglichkeit, die es so vor 50 Jahren nicht gegeben hat und wodurch ich viele Freunde überall in der EU gefunden habe.

Leider ist es aber so, dass viele Entscheidungen getroffen werden, ohne dass die Menschen eingebunden werden. Außerdem delegieren österreichische Politiker negative Entscheidungen immer nach Brüssel an die Kommission - ein Gremium, das nicht direkt gewählt wird! Dort sitzen Politiker, die in ihren Heimatländern keiner mehr haben will und die dann nach Brüssel abgeschoben werden - zumindest war das in Österreich so bei den letzten Neuzugängen. Insgesamt finde ich, dass der EU etwas mehr direkte Demokratie nicht schaden würde. Ich wünsche mir auch mehr Transparenz (Welcher Politiker hat von welchem Lobbyisten wie viel Geld erhalten?) und einen stärkeren Fokus auf die Menschen, weniger auf die Interessen der Wirtschaft.

Justyna Zyga aus Polen: In Vielfalt geeint

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Rund 150 Jahre nach Bismarck wissen wir, dass Europa kein geographischer, sondern ein soziopolitischer Begriff ist. Europa ist nicht nur ein Verein souveräner Länder, die dem EU-Recht unterliegen. Europa ist verbunden durch Solidarität, durch eine gemeinsame Geschichte, Ökonomie und Kultur. Und diesen Status Quo gilt es mit der Europawahl zu erhalten.

Ich wohne in Breslau (Wroc?aw), einer Stadt, die im 18. und 19. Jahrhundert deutsch und zuvor tschechisch war. Hier mischen sich verschiedene Kulturen, Architekturstile und Sitten. Viele Ausländer besuchen meine Stadt, um ihre Familiengeschichte kennenzulernen. Die niederschlesische Metropole Wroc?aw wird 2016 Europas Kulturstadt. Ohne Zweifel wollen polnische Bürger Partner anderer europäischer Bürger sein.

Die Globalisierung gibt Europa die Chance, ein Global Player zu werden. Um erfolgreich zu sein, sollte Europa sich einigen - vor allem in den Bereichen Wirtschaft und Kultur, ähnlich wie in den USA. Wir brauchen einen funktionierenden gemeinsamen Markt, um mit China oder den USA konkurrieren zu können. Davon profitiert jedes Land der EU. Europa sollte seine Vielfalt sinnvoll nutzen, um einen echten Wettbewerbsvorteil zu schaffen.

Rudite Spakovska aus Lettland: Die Freiheit genießen

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Ich war in Berlin, als ich merkte, was Europa für mich bedeutet. Ich sollte ein Interview führen, doch der Termin wurde nach hinten verschoben. Also saß ich an einem sonnigen Morgen am Brandenburger Tor und telefonierte mit meiner Mutter. Während wir sprachen, wurde mir bewusst: Die Wahlmöglichkeiten, die ich heute habe, waren für sie nur ein Traum. Sie konnte keinen Kaffee in Westberlin trinken, nicht in London studieren, nicht problemlos nach Barcelona in den Urlaub fliegen und auch nicht in Kopenhagen arbeiten, wenn sie das gewollt hätte. Ich hingegen kann all das machen und mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie großartig ich es finde, diese Freiheit zu haben.

Ja, es gibt Probleme in Europa. Aber meiner Meinung nach sind wir als Bürger Europas auch diejenigen, die sie lösen müssen. Ich höre viele Beschwerden, in Lettland und auch in anderen Ländern, über Dinge, die die EU vermeintlich falsch macht - insbesondere nach der Finanzkrise. Was mir dabei auffällt ist, dass es meist um kleine Themen geht, die gar nicht im Einflussbereich der EU liegen. Die einzelnen EU-Staaten, selbst die größten unter ihnen, können global gesehen nicht ansatzweise die gleiche Rolle spielen, die ihnen als europäische Staatengemeinschaft zukommt.

Moa Nilsson aus Schweden: Mehr nationale Autonomie

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Mir gefällt die Idee einer europäischen Supermacht nicht besonders, denn das würde bedeuten, dass der einzelne Bürger weniger Einfluss auf Entscheidungen hat. Eine größere Gemeinschaft bedeutet auch mehr Kompromisse. Kompromisse, mit denen ich nicht einverstanden bin - zum Beispiel beim Thema Abtreibung. Schweden ist das einzige Land, das eine Abtreibung nach der 12. Woche erlaubt. Meiner Meinung nach verletzen die strengeren Gesetze anderer Länder die Menschenrechte. Auch in Sachen Tier- und Umweltschutz sind wir strikter als andere EU-Staaten. Die EU sollte sich lieber diesen Themen widmen, als etwa ein Gesetz zur Jagd auf Wölfe zu erlassen. Manches wäre auf nationaler Ebene besser aufgehoben.

Natürlich hat die EU auch Vorteile, von denen ich während meines Auslandsjahrs in Berlin profitiert habe. Ich konnte problemlos dort arbeiten und studieren. Ich finde allerdings, dass diese Möglichkeiten weltweit existieren sollten. Die Welt wäre ein besserer Ort ohne Grenzen. Wir machen ausländischen Studenten und Forschern - von denen wir profitieren - das Leben und Arbeiten in Europa leichter als Menschen, die nicht das Glück hatten, lesen und schreiben zu lernen. Das ist egoistisch und unmenschlich.

Was mich auch umtreibt, ist die Gleichstellungsdebatte. Auch in Schweden sind die Zahlen von Frauen in Führungspositionen im Vergleich zu Männern desaströs: 2012 gab es unter den 50 wichtigsten Managern nur drei Frauen. Dass Schweden als Paradebeispiel für Gleichberechtigung angesehen wird, ist beängstigend. Ich befürchte, dass Frauen in Führungspositionen eher weniger als mehr werden, wenn wir ein komplett geeintes Europa werden, in dem Schweden als kleines Land kaum noch etwas zu sagen hat.

Protokolle: Nicole Wehr, Julia Müller, Christine Tsolodimos, Christian Schuldt, Jana Gloistein, Michèle Rothenberg

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