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Europameisterschaft 2024 Deswegen hat unsere Autorin den Spaß am Fußball schauen verloren

Public Viewing Berlin
© Maryam Majd / Getty Images
Während der Fußball-EM der Männer steigt die Gewalt gegenüber Frauen. Unsere Autorin erklärt, warum sie nicht nur betrunkene, grölende Fans, sondern das ganze System Fußball kritisch sieht.

Die EM findet 2024 in Deutschland statt. Das bedeutet: Fußball-Fans aus ganz Europa reisen nach Hamburg, München, Frankfurt und Co., um ihre Mannschaft anzufeuern. Wenn sie nicht im Stadion schauen, dann bei einem der zahlreichen Public Viewings, wie zum Beispiel auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg oder am Brandenburger Tor in Berlin. 

Während für einige Menschen die EM DAS Ereignis des Jahres ist, auf das sie sich schon seit Ewigkeiten freuen und vielleicht extra Urlaubsgeld und -tage angespart haben, um sich den Traum erfüllen zu können, live im Stadion zu sitzen oder zumindest auf den Fanmeilen mit Gleichgesinnten zu feiern, versetzen Fußballgroßereignisse andere in Angst und Schrecken. Insbesondere Frauen und queere Menschen berichten davon, dass sie sich unsicher fühlen, wenn Fußball in der Stadt ist. Ich habe mit Frauen gesprochen, die sich extra weite, "unsexy" Kleidung anziehen, um nicht aufzufallen, die Angst vor dem Nachhauseweg haben oder das Haus gar nicht erst verlassen.

Alkoholkonsum im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen

Viele Fans sind männlich und nutzen ihren Kurzurlaub im Namen des Fußballs, um einmal richtig über die Stränge zu schlagen. Es wird getrunken, gegrölt, die Bromance besiegelt – und wenn genug Alkohol geflossen ist, auch mal geflirtet. Dabei wollen Männer möglichst unter sich sein und andere Männer bejubeln, wie Tara-Louise Wittwer in ihrem Buch "Dramaqueen" und auf ihrem Instagramkanal treffend feststellt. Frauen sind in diesem Kontext eher unerwünscht. Sie rücken erst dann in den Fokus, wenn der Schiri das Spiel auf der Leinwand abgepfiffen hat – entweder als Sexualobjekt oder Zielscheibe für Wut. Spätestens der Pfiff markiert also den Zeitpunkt, ab dem es ungemütlich für Frauen, queere Menschen und generell marginalisierte Personengruppen werden kann.

Erhöhter Alkoholkonsum und die Emotionalität bei Fußballveranstaltungen verstärken die (sexualisierte) Gewaltbereitschaft gegen Frauen und Frauenhass. Heißt unter dem Strich: wütende, betrunkene Männer können gefährlich werden. Daher stufte bereits die Internationale Spielervereinigung "Fifpro" laut "Deutschlandfunk" den Fußball als "Hochrisiko-Umfeld" für Übergriffe ein. Der Fußball habe ein weitverbreitetes Problem, nämlich sexuelle Fehlverhalten, Belästigung und Missbrauch. Eine Investigativ-Recherche des deutschen ARD-Videoformats "Vollbild" bestätigt zudem, dass es auch im Stadion selbst zu Übergriffen kommt. Betroffene berichten von abwertenden Kommentaren, ungewollten Berührungen bis hin zu K.-o.-Tropfen. Leider fehlen bisher repräsentative Studien, um Zahlen festzumachen, deutlich wird aber auch so, dass das Umfeld nicht sicher ist.

Aber nicht nur bei Public Viewings und im Stadion steigt die Gewaltbereitschaft, sondern auch zu Hause. Ich fühle mich zwar vor dem Fernseher in meinen eigenen vier Wänden sicher vor Catcallern und Grapschern, das Glück haben aber nicht alle. UN Women Deutschland wies zum Start der Fußball-Europameisterschaft auf die Gefahr partnerschaftlicher Gewalt bei Fußballturnieren hin und forderte in diesem Zuge politische Maßnahmen. Eine Studie der Universität Lancaster untermalt die Notwendigkeit dessen: Die Ergebnisse haben gezeigt, dass die häusliche Gewalt gegen Frauen während der Weltmeisterschaft bei einem Sieg oder Unentschieden der englischen Nationalmannschaft um 26 Prozent anstieg, bei einer Niederlage um ganze 38 Prozent.

Machtmissbrauch und zweifelhafte Vorbilder

Woher die steigende Gewaltbereitschaft gegen Frauen rührt? Fußball sei von misogynen und sexistischen Strukturen geprägt, so Tara-Louise Wittwer auf Instagram. Das Problem ist also tief mit dem System verwoben und verwurzelt. Denn wenn Profi-Spielern wie Cristiano Ronaldo und Jérôme Boateng sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch vorgeworfen wird, diese aber keinerlei Konsequenzen zu fürchten haben, da sie, wie es bei "Correctiv" heißt, "von einem Schutzpanzer aus Macht, Geld und totaler Kontrolle umgeben sind", dann sendet das falsche Signale. Diese Männer sind Vorbilder von vielen jungen Menschen und legitimieren ein System struktureller Gewalt gegen Frauen. 

Der Tod von Kasia Lenhardt, Ex-Freundin von Jérôme Boateng, hat das gewaltige Machtgefälle offengelegt und kurzzeitig alarmiert, aber bisher leider nicht viel verändert. Zudem haben "Correctiv" und "SZ" in Zusammenarbeit neun Ex-Frauen und -Freundinnen von Profi-Fußballern ausfindig gemacht, denen körperliche, psychische und ökonomische Gewalt widerfahren ist. Die Frauen trauen sich nicht, laut zu werden, aus Angst, dass sie wie Kasia Lenhart enden. So ein System kann immer nur am Laufen gehalten werden, wenn sich gegenseitig der Rücken gedeckt wird.

Die Hoffnung stirbt zuletzt ...

Mich ärgert das nicht nur, mir macht es Angst. Daher frage ich mich, warum ich ein solches System noch unterstützen sollte? Es wird so viel Geld in den Fußball gepumpt – die Mittel wären also da –, aber dennoch wird nicht genug dafür getan, seine sexistischen Strukturen zu bekämpfen – und Fußball sicherer für ALLE zu machen. Das fängt schon im "Kleinen" an. 

Nach ersten Schätzungen kostete es die Stadt Hamburg rund 33,7 Millionen Euro, die fünf EM-Spiele im Volksparkstadion durchzuführen. Davon floss vermutlich nur ein Bruchteil in die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt an den Austragungsorten. Immerhin sind in den Stadion und an vielen großen offiziellen Public-Viewing-Orten wie dem Brandenburger Tor in Berlin und am Heiligengeistfeld in Hamburg mittlerweile sogenannte Safeguards unterwegs, die in Notfällen helfen. Zudem kommt bei dieser EM erstmals ein digitales Meldesystem zum Einsatz, in dem jegliche Formen der Belästigung direkt erfasst werden können. Es ist ein Anfang, dennoch reichen mir diese Maßnahmen nicht aus, um mich dort wohlzufühlen.

Brigitte

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