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Eltern sind viel zu ängstlich!

Das BRIGITTE-Dossier in Heft 7 hat eine brisante Diskussion ausgelöst: Lassen wir unseren Kindern noch genügend Freiraum? Oder schaden wir ihnen mit übertriebener Sorge? Experten, Politikerinnen und Eltern äußern sich hier zu einem der schwierigsten, aber auch wichtigsten Erziehungsthemen unserer Zeit. Weitere Kommentare lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der BRIGITTE (Heft 8).

"Das Problem ist doch, dass Kinder die Ängste der Eltern sogar spüren und sie dann übernehmen"

Dr. Wolfgang Schmidbauer, 65, Diplom-Psychologe, München

Mir gefällt das Dossier gut - es ist hier etwas Wesentliches gesagt. Nur: Abhilfe ist schwer, denn Kinder spüren die Ängste der Eltern und übernehmen sie. Ängstliche Eltern machen Kindern Angst, geängstige Kinder klammern sich an ihre Eltern. Ursachen gibt es viele, und sie reichen tief: 1. Wir haben viel mehr zu verlieren als früher - gerade an materieller Sicherheit. 2. Es gibt viel weniger Kinder im Leben eines "normalen" Erwachsenen, so dass jedes einzelne unendlich kostbar wird. 3. Niemand muss mehr Trennungsängste aushalten. Jeder hat ein Handy oder, anders ausgedrückt: eine Fernsteuerung. 4. Die Medien stimulieren zahlreiche Ängste, auf die wir sonst gar nicht kämen. Wie oft habe ich mich als Kind geschnitten, die Mutter hat geschimpft und ein Pflaster draufgeklebt, später war man stolz auf die Narben. Mit 16 war ich mit dem Moped und dem Zelt mit meinem zwei Jahre älteren Bruder für 14 Tage in Italien, wir haben nie zu Hause angerufen. Heute undenkbar. Ich habe mich immer dran gehalten, dass kleine Ängste überwunden werden müssen - die der Kinder wie die der Eltern. Wer aber schützt die Eltern vor dem pädagogisch- psychologischen Perfektionismus, der wichtigsten Quelle unserer Ängste?

"Wie lange darf eine 15-Jährige abends um die Häuser ziehen?"

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Dr. Ursula von der Leyen, 48, Bundesfamilienministerin, Berlin

Angst oder besser gesagt Sorge um die Kinder begleitet wohl alle Eltern. Wir möchten sie behüten und beschützen. Das ist gut so. Aber gleichzeitig müssen Eltern lernen, den Kindern mehr Freiraum zu lassen. Der Grad zwischen kümmern und "in Watte packen" ist schmal. Es sind die kleinen Entscheidungen des Alltags, an denen wir Eltern uns mit den Kindern reiben. Darf unsere Sechsjährige allein mit dem Rad zur Freundin fahren? Wie lange darf die 15-Jährige abends um die Häuser ziehen? Der innere Drang, dem Bitten der Kinder aus Übervorsicht nicht nachzugeben, kenne ich nur zu gut. Was ist gesunde Vorsicht, wann ist ein klares Nein gefragt? Kinder brauchen Freiräume, in denen sie ihre Grenzen austesten können. Jedes Kindergartenkind klettert schon mal auf einen Baum, der zu hoch ist, und merkt, dass es schwer ist, wieder runterzukommen. Kinder lernen nur durch Erfahrungen, Risiken und ihre Kräfte richtig einzuschätzen. Vorsicht ist genauso wichtig wie der Mut, immer mehr auszuprobieren. Alle meine Kinder haben sich mächtig viele blaue Flecken beim Klettern geholt und dabei Gleichgewicht und Geschicklichkeit geübt. Eines hat sich den Arm gebrochen, ein anderes eine Platzwunde zugezogen. Natürlich habe ich mir Vorwürfe gemacht, in dem Moment nicht aufgepasst zu haben, aber heute denke ich: Gott sei Dank, dass nicht Schlimmeres geschehen ist. Ich halte mir vor Augen, wie viele Mal es gut gegangen ist und dass die Kinder ein Stückchen Selbständigkeit erlernt haben. Aber sie verhandeln unentwegt. Ich habe inzwischen gelernt, dass es für beide Seiten am besten ist, in Ruhe genaue Vereinbarungen zu treffen. Sie müssen sich daran halten, aber genauso dürfen wir unsere Zusagen nicht über den Haufen werfen, wenn es mal nicht passt. Damit schenken Eltern dem Kind Vertrauen, aber es ist auch ganz klar, wo Grenzen sind, die nicht überschritten werden dürfen. Natürlich weiß ich, dass das Vertrauen auch enttäuscht werden kann. Aber es lohnt sich, das Risiko einzugehen. Nur so können die Kinder lernen, Gefahren einzuschätzen, Fähigkeiten zu entwickeln und stark zu sein. Ich bin heute großzügiger als vor 18 Jahren als junge Mutter.

"Es sind vor allem Spätgebärende, die ihre Kinder mit ihrer Fürsorge erdrücken"

Sandra Maahn, 38, N3-Moderatorin, Hamburg

Ich wünsche mir von Herzen, dass möglichst viele Eltern und insbesondere Mütter dieses Dossier lesen. Meiner Erfahrung nach sind es nämlich leider vor allem Frauen und vor allem so genannte Spätgebärende", die ihre Kinder mit Sorge beinahe erdrücken. Ich selbst habe mein erstes Kind mit 24 bekommen und im Vorfeld auf das Lesen der einschlägigen Beratungslektüre weitgehend verzichtet. Ich habe vor allem auf meinen Bauch gehört und meinem gesunden Menschenverstand vertraut. Nach meiner Erfahrung haben Kinder sehr feine Sensoren dafür, was sie sich selbst zutrauen können, jedenfalls dann, wenn man sich die Zeit nimmt, mögliche Gefahren und den Ausweg aus einer schwierigen Situation gründlich zu besprechen. Den Mut aufzubringen, seinen Kindern Selbständigkeit zuzutrauen, hat, jedenfalls für mich, auch noch einen ganz egoistischen Nebeneffekt: Ich bin immer wieder unendlich stolz auf meine großartigen, selbständigen und selbstbewussten Kinder. Deshalb, liebe Mütter: Traut euch!

"Die beschriebenen Elternängste kann ich nur sehr schwer nachvollziehen"

Dr. Remo Largo, 63, Kinderarzt und Sachbuchautor, Zürich

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Kind vom Baum fällt und sich dabei schwer verletzt, und Statistiken belegen, dass zum Beispiel der Straßenverkehr in den letzten Jahrzehnten immer sicherer geworden ist. Ich kann nur spekulieren, dass hinter solch übertriebener Furcht vor konkreten Risiken eine ganz andere, diffuse Angst steckt: nämlich die existenzielle Sorge um die Zukunft in Gestalt unserer Kinder. In den letzten zehn bis zwanzig Jahren hat in unseren Gesellschaften ein großer Sicherheitsverlust und damit einhergehend eine massive Verunsicherung stattgefunden. Die allgemeine Existenzangst zeigt sich unter anderem darin, dass heutige Eltern sich die allergrößten Sorgen um den Schulerfolg und die beruflichen Chancen ihrer Kinder machen: In Zürich zum Beispiel nehmen 60 Prozent aller Grundschüler an privaten oder öffentlichen Fördermaßnahmen teil! Wie sehr die Eltern ihre eigenen allgemeinen Ängste auf die Kinder projizieren, hängt wesentlich von der Eltern-Kind-Beziehung ab: Je stärker und verlässlicher ihre emotionale Bindung zum Kind ist, desto mehr Vertrauen haben sie in seine Fähigkeiten und desto selbständiger können sie das Kind sich entwickeln lassen.

"Gucken Sie sich die Schulhöfe an - die Gewalt, die dort teilweise herrscht, hat es vor 20 Jahren nicht gegeben"

Julia Onken, 63, Diplom-Psychologin und Buchautorin, Romanshorn

Ich finde es also nur zu verständlich, dass Eltern ängstlich und teilweise auch überängstlich sind. Immerhin hat diese Überfürsorge ja auch einen Vorteil: Sie zeigt schließlich, dass Eltern heutzutage nicht gleichgültig sind, dass sie sich kümmern. Klar ist aber auch, dass sich diese Ängstlichkeit der Eltern auf ihre Kinder überträgt, und deshalb muss man mit den Eltern zusammen überlegen: Hilft diese Angst unserem Kind eigentlich? Und wie gehen wir mit ihr um? Eltern müssen begreifen, dass Unsicherheit ein grundsätzliches Problem der Menschen ist und dass sie einfach nicht in der Lage sind, diese aus der Welt zu schaffen.

"Ich glaube, Eltern haben zu allen Zeiten Angst um ihre Kinder gehabt"

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Renate Schmidt, 63, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend a. D., Berlin

Aber in meinen Augen geben Eltern dieser Angst heute zu sehr nach. Sie versuchen, Kinder vor allem zu bewahren, und das kann man nicht. Man sollte Eltern allerdings kein schlechtes Gewissen deswegen einreden. In dem Moment, in dem man einen Menschen liebt, hat man auch Angst um ihn. Meine schlimmsten Albträume waren, dass meine Kinder von hohen Türmen runterfallen und Ähnliches. Als gläubiger Mensch bete ich auch heute noch regelmäßig, obwohl sie längst erwachsen sind, darum, dass ihnen nichts passiert. Aber ich lasse sie tun, was sie für notwendig halten. Kinder sind ein Stück Chaos, und dieses Chaos muss man genauso zulassen wie die Angst.

"Die Kinder sind der Pfeil und wir nur der Bogen, der sie in die Welt hinausschießt"

Veronica Ferres, 40, Schauspielerin und Schirmherrin von "Power-Child e. V.", München

Ich sehe es als größte Herausforderung für Eltern, ihre eigenen Ängste nicht auf die Kinder zu projizieren. Wenn Eltern dies tun, übertragen sie damit ihren Kindern eine große Last. Der Prophet Khalil Gibran hat das Prinzip des Loslassens sinngemäß sehr schön formuliert: Die Kinder sind der Pfeil, wir Eltern nur der Bogen, der diesen Pfeil in die Welt hinausschießt. Die Welt ist gefährlicher geworden, und wir kommen nicht umhin, unsere Kinder besser zu schützen. Aber dies muss auf eine sensible Art und Weise geschehen und nicht, indem wir ängstliche Kontrolle ausüben. Ich muss meinem Kind früh klarmachen, dass niemand seine Grenzen überschreiten darf. Ich muss es aufmerksam machen für gefährliche Situationen und ihm beibringen, "Nein" zu sagen. Aber das muss mit einer Offenheit passieren, die das Kind stärkt und nicht schwächt.

"Eltern müssen von Beginn an daran arbeiten, überflüssig zu werden"

Gerlinde Unverzagt, 45, Autorin und Journalistin (schrieb unter Pseudonym "Das Lehrerhasser-Buch"), Berlin Ich erinnere mich genau an die Situation, als mein damals vierjähriger Sohn im Tiergarten verschwand. Zwei Stunden rannte ich durch den Park, um ihn zu suchen. Als ich vollkommen hysterisch zu Hause ankam, um die Polizei zu rufen, stand er vor der Tür - weil er uns nicht wiedergefunden hatte, hatte er das Naheliegendste getan und war er allein nach Hause gefahren. Damals dachte ich: Er ist erst vier und viel vernünftiger als du. Ich bin froh, dass ich meine Ängste immer auf vier Kinder verteilen musste. Da kann man nicht auf alles aufpassen, sondern muss die Kinder auch mal machen lassen: die Tochter allein mit dem Rad zur Schule schicken, den Sohn mit dem scharfen Messer Gemüse schneiden lassen. Wenn ich Angst hatte, habe ich meine Kinder das immer wissen lassen, ihnen aber auch gesagt, dass diese Angst meine Sache ist. Weil ich der Meinung bin, dass man seinen Kindern bestimmte Dinge zumuten muss, sie dabei unterstützen muss und wissen muss, wo die eigenen Befindlichkeiten aufhören und die Wünsche des Kindes anfangen, denn Kinder wollen alles allein machen. Ich habe begriffen, dass die Liebesgeschichte, die man mit einem Kind hat, sich grundlegend von der zu einem Erwachsenen unterscheidet: Sie ist irgendwann automatisch vorbei. Eltern müssen von Beginn an daran arbeiten, überflüssig zu werden und sich selber abzuschaffen.

BRIGITTE Heft 08/2006

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