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Strafrechtsprofessorin erklärt Welche Strafe ist gerecht?

Gerechtigkeits Statue
© Proxima Studio / Adobe Stock
In kaum einem anderen Bereich klaffen öffentliche Meinung und tatsächliches Urteil so weit auseinander wie bei Sexualdelikten. Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven erklärt, warum das so ist –und warum es so schwer ist, eine Vergewaltigung zu beweisen.

BRIGITTE: Sie forschen zum Thema Strafzumessung. Inwieweit entsprechen die Urteile deutscher Gerichte bei Sexualdelikten dem, was die Öffentlichkeit als "gerechte Strafe" empfindet?

Elisa Hoven: Wir haben das in einer bundesweiten Studie untersucht. Richter:innen und Laien sollten darin für fiktive Sachverhalte Strafen festlegen. Im Bereich der Sexualdelikte ging die Beurteilung besonders weit auseinander, da verhängten Laien im Schnitt eine fast doppelt so hohe Strafe wie die Richter:innen. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Akzeptanz der Rechtsstaatlichkeit insgesamt auch davon abhängt, ob die Öffentlichkeit die Höhe von Strafen als gerecht empfindet.

Wäre es denn wünschenswert, wenn Gerichte die öffentliche Meinung stärker berücksichtigen?

Nicht generell, und DIE öffentliche Meinung gibt es ja auch nicht. Häufig fällt es auch leicht, abstrakt harte Strafen zu fordern, wenn man die Hintergründe der Tat und die Geschichte des Täters nicht kennt. Die Justiz darf nicht allem nachlaufen. Aber wenn wir sehen, dass, wie im Sexualstrafrecht, die Einschätzungen ganz stark auseinandergehen, muss man die eigene Praxis einmal hinterfragen. Werden die verhängten Strafen der besonderen Schwere von sexualisierter Gewalt gerecht? Und man muss überlegen, ob und wie man die Öffentlichkeit besser informieren kann. Zum Beispiel ist der Vergewaltigungsbegriff im juristischen Sprachgebrauch ein anderer als der, den wir laienhaft benutzen. In "Vergewaltigung" steckt "Gewalt", die assoziieren wir häufig damit – das Gesetz aber setzt Gewaltanwendung gar nicht voraus. Da geht es häufig auch um weniger schwerwiegende Taten. Die werden zu Recht milder bestraft – und das versteht man als Zeitungsleserin dann nicht.

Wie gut werden Studierende auf das Sexualstrafrecht vorbereitet?

Eigentlich gar nicht. Der Stoff wird im Examen nicht geprüft.

Und auch nicht gelehrt?

An den allermeisten Universitäten nicht.

Warum?

Zum einen aus Sorge, dass es Studierende, die selbst so eine Erfahrung gemacht haben, triggern könnte. Und ich glaube, es gibt auch eine gewisse Berührungsangst mit dem Thema, man muss Sachverhalte ansprechen und Worte sagen, die einem vielleicht nicht ganz leichtfallen.

Woran orientieren sich die Richter:innen denn, wenn sie ein Urteil fällen sollen?

Oft an dem, was an einem Gericht an Strafhöhen üblich ist. Wenn Sie als junge Staatsanwältin, junger Richter an ein Gericht gehen, haben Sie meist keine Ahnung, was Sie für eine Sexualstraftat geben sollen, die Strafrahmen sind weit, sie reichen nicht selten von einem bis zu 15 Jahren. Da fragen Sie natürlich, was da am Gericht üblich ist. Und so setzen sich Traditionen fort.

Auch die, Sexualdelikte nicht allzu hart zu bestrafen ...

Ja, die Gesellschaft ist da weiter, schon durch MeToo. Wir haben mittlerweile gesehen, wie dramatisch die Folgen dieser Taten für die Opfer sind. Auch das sollte jetzt Eingang in die Urteile finden. Fast alle Strafen für sexuelle Übergriffe zwischen Erwachsenen liegen im unteren Drittel des Möglichen, das haben unsere Untersuchungen gezeigt, und das halte ich bei diesen Delikten für falsch. Nicht nur, weil die Öffentlichkeit das so sieht. Sexualdelikte sind ein tiefer Eingriff in das hohe Gut der sexuellen Selbstbestimmung. Man muss für jedes Delikt schauen, wo ist das typische Unrecht innerhalb des Strafrahmens zu verorten, und das ist nicht immer unten.

Stellen Sie fest, dass Frauen bei Sexualdelikten anders urteilen?

Interessanterweise zeigen Studien einen solchen Zusammenhang nicht. Vielleicht ist es sogar eine Überkompensation, dass man denkt, möglicherweise bin ich als Frau besonders streng, möchte aber neutral wirken.

Gibt es denn in Deutschland generell eine Tradition, milde zu urteilen?

Ja, was auch grundsätzlich viele Vorteile hat. Wir sperren die Menschen nicht einfach weg, sondern nehmen den Resozialisierungsgedanken ernst. Wir haben ein sehr gutes und funktionierendes System, auf das wir stolz sein können. Aber damit es gut bleibt, muss man auch genau hinschauen, ob es dennoch Defizite gibt. Bei unserer Forschung hat mich überrascht, wie die Strafzumessung bei Sexualdelikten teilweise begründet wurde. Wir haben da eine gewisse Form von Victim Blaming gefunden, dem Opfer wurde also die Verantwortung zugeschrieben. Bei häuslicher Gewalt etwa wurde strafmildernd berücksichtigt, dass sich das Opfer nicht aus der Beziehung gelöst hat. Da wurden in meinen Augen die psychologischen Dynamiken von häuslicher Gewalt überhaupt nicht verstanden.

Es gibt ja eine Reihe neuerer Delikte, zum Beispiel das Upskirting: unerlaubte Fotos des Intimbereichs, die seit 2022 ein Straftatbestand sind. Wie gehen denn Gerichte mit solchen Fällen um?

Das Problem liegt hier nicht bei den Gerichten, sondern eher auf der Ebene der Polizei. In Gesprächen mit Betroffenen hört man nicht selten, dass die neuen Tatbestände dort gar nicht bekannt sind. Dass es kein hinreichendes Bewusstsein dafür gibt, dass es sich um strafbares Verhalten handelt. Deshalb kommen diese Fälle oft gar nicht erst zu Gericht. So war es auch lange bei sexualbezogenen Beleidigungen im Internet. Wenn Opfer zur Polizei gingen und das angezeigten, hörten sie Sachen wie: Dann machen Sie doch den Computer aus!

Seit 2016 gilt in Deutschland "Nein heißt Nein": Eine sexualisierte Handlung muss explizit abgelehnt werden, damit sie dem Straftatbestand der Vergewaltigung entspricht. Schweden und mehrere andere EU-Staaten gehen einen Schritt weiter, sie verlangen ein explizites Einvernehmen, also das "Nur Ja heißt Ja". Es wurde versucht, daraus EU-weit einheitliches Recht zu machen – was auch an der deutschen Blockade scheiterte. Würde "Ja heißt Ja" mehr Klarheit schaffen?

Zunächst einmal hat der Bundesjustizminister recht, wenn er meint, dass die EU für eine solche Regelung nicht zuständig ist. Gerade in einem sensiblen Bereich wie dem Sexualstrafrecht muss eine Gesellschaft die Grenzen des Erlaubten selbst festlegen. Was das "Nur Ja heißt Ja"-Modell betrifft, bin ich skeptisch. Mein Eindruck ist, dass die Länder, die das Zustimmungsmodell haben, vor denselben Problemen stehen wie wir. Dass in Deutschland so viele Fälle eingestellt werden – zwischen 70 und 90 Prozent – liegt nicht am Recht, sondern an den Beweismöglichkeiten. Häufig ist die Kommunikation zwischen den Beteiligten strittig. Eine Aussage-gegen-Aussage-Situation wird sich auch durch "Nur Ja heißt Ja" nicht auflösen lassen. Außerdem liegen die Probleme oft an anderer Stelle: Die Frau sagt Ja, aber sie tut es nur, weil sie sich unter Druck gesetzt fühlt. Etwa, weil sie meint, dass es von ihr erwartet wird, oder wenn der Mann in einer Machtposition ist. War ihr "Ja" dann wirklich freiwillig?

Sind das nicht Dinge, die man von außen niemals wird abschließend beurteilen können?

Das stimmt. "Nur Ja heißt Ja" klingt erst einmal nach einem feministischen Fortschritt. Aber die Fälle werden wahrscheinlich genauso eingestellt werden wie bisher. Und es steht auch eine sehr spannende feministische Frage dahinter, die ich für mich auch noch nicht final beantwortet habe. In wessen Verantwortungssphäre fällt Kommunikation? Muss der Mann die Frau aktiv fragen, ob sie zustimmt – oder kann man von ihr erwarten, dass sie ein Nein äußert? Wir müssen auch aufpassen, dass wir Frauen nicht infantilisieren. Zugleich sollten wir darüber sprechen, ob wir das Ausnutzen von Machtpositionen zum Beispiel durch Arbeitgeber oder einen einflussreichen Regisseur nicht mehr als bisher unter Strafe stellen wollen.

Wenn sich das Denken durchsetzen würde, dass man eine explizite Einwilligung braucht, kann das dazu führen, dass alle Beteiligten sensibler darauf achten: Was will die andere Person wirklich. Das wäre doch ein Fortschritt?

Ich sehe es kritisch, wenn man das Strafrecht zur Erziehung in dieser Weise nutzen will. Bisher gilt: Es gibt Vorstellungen in der Gesellschaft von falschem Verhalten, das Strafrecht lenkt sie nicht, es bildet sie ab. Wenn man Denkmuster verändern will, sollte man besser außerhalb der Justiz und in der Gesellschaft ansetzen. Etwa bei der Sexualerziehung, die den beidseitigen Konsens viel stärker in den Mittelpunkt rücken müsste.

Brigitte

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