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Eine Obdachlose erzählt: "Die Schwangerschaft war meine Rettung"

Obdachlose durch Schwangerschaft gerettet
© Rawpixel.com (Symbolfoto) / Shutterstock
Nadine war jahrelang obdachlos. Als sie mit Ende 30 Mutter wurde, verschaffte ihr ein Sozialarbeiter eine Wohnung. Aber wie geht der Weg in ein normales Leben, wenn man nie eines hatte?

Tagsüber noch die Straße, das sei schon in Ordnung, sagt Nadine. Meist steht sie zwischen Drogerie und Gemüsehändler, am Seiteneingang eines Einkaufszentrums in Hamburg. Im Winter lehnt sie sich oft eng an die Hauswand, unter dem Vorsprung des Daches, der sie halbwegs vor Schnee und Nässe schützt.

An manchen Tagen ist Roberto bei ihr, der Vater ihrer beiden Kinder. Gemeinsam verkaufen sie dort "Hinz&Kunzt", das Hamburger Straßenmagazin.

Der Vater: Kein Vorbild für die Kinder

Es sind seltene Momente der Nähe. Denn Roberto, ein ehemaliger Heroin-Abhängiger, darf nicht bei Nadine und den Mädchen wohnen, so die Auflage des Jugendamtes. Er sei kein adäquates Vorbild für die Kinder. Nadine liebt ihn, sagt sie. Seit mehr als zehn Jahren. Aber er passt nicht in das bürgerliche Leben, das sie sich so sehnlich wünscht.

Roberto und sie waren von Beginn an ein ungleiches Paar: Er, der seit dem Ende seiner Hauptschulzeit auf der Straße lebte, Drogen nahm und heute kaum noch Zähne im Mund hat. Dann Nadine, die als gelernte Bürokauffrau mit Realschulabschluss in der Obdachlosen-Szene als Privilegierte galt.

Was wollte sie mit diesem Typen? Damals sei er ein hübscher Kerl gewesen, sagt sie. Als sie mit Ende dreißig einfach nicht mehr verhütet, weil sie glaubt, nicht mehr fruchtbar zu sein, wird sie ungeplant schwanger. Trotz aller Umstände will sie dieses Kind bekommen.

Nadine bekam das Baby auf der Straße

Kurz nach der Geburt ihrer Tochter Kim vor fünf Jahren spricht ein Sozialarbeiter von "Hinz&Kunzt" Nadine an: Sie könne mit dem Baby nicht weiter zwischen Schnapsleichen schlafen. Er sorgt dafür, dass Nadine erst in eine soziale Einrichtung für Mütter in Not zieht, später mit der Hilfe von Kims Kita-Leiterin in ihre jetzige Wohnung.

Die liegt in einer hellen Anlage zwischen Niendorfer Gehege und Hagenbecks Tierpark, einer bürgerlichen Gegend im Norden Hamburgs. Ihre Töchter Kim (5) und Summer (2) schlafen in einem Etagenbett aus hellem Eichenholz, im Zimmer fliegen Lillifee-Puppen, Plastikpferde und Barbies herum. Nadine hat alles bei Ebay ersteigert, so wie auch ihre Möbelstücke. Keines hat mehr als 40 Euro gekostet.

Wenn sie etwas gelernt habe, seit sie wieder sesshaft ist, dann sparsam zu sein, sagt sie. Mit Mini-Jobs, verkauften Zeitungen, Arbeitslosengeld und dem Jugendamt hält sie sich irgendwie über Wasser. Immer ganz knapp. Ein ständiger Kampf.

Ihre Geschichte ist die Geschichte von verkorksten Beziehungen

Nadine stellt eine Kanne Filterkaffee auf den Couchtisch, die Mädels bemalen Plastik-Ostereier mit spitzen Pinseln. Nach einer halben Stunde ist Schluss mit brav, sie streiten sich, rasen um den Tisch. Kim fordert ein Versteckspiel ein, Summer Schokolade. Nadine fällt es schwer, Nein zu sagen, nachdem ihre eigene Kindheit ein einziges lautes Nein war. Sie will eine liebevolle Mutter sein. Nicht wie ihre eigene, die ihr immer nur das Gefühl gegeben hat, zu versagen.

Nadines Geschichte ist auch die Geschichte von verkorksten Beziehungen. Erst die zu ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, dann zu dem Mann, der sie letztendlich auf die Straße brachte. Sie lernte ihn im Internet kennen, er lockte sie aus dem beschaulichen Worpswede bei Bremen ins Ruhrgebiet, wo sie niemanden kannte.

Nadine war unsicher, fühlte sich mit ihrem Übergewicht nicht besonders attraktiv, und dieser Mann, dessen Namen sie nicht nennen will, war ihr erster Freund. Dass er spielte und trank, während sie das Geld verdiente, nahm sie hin. Dann setzte er sie vor die Tür, als er eine andere gefunden hatte, die ihn aushielt.

Nadine war am Boden zerstört und psychisch nicht mehr in der Lage, zu arbeiten. Sie wusste nicht wohin, denn zu ihrer Mutter wollte sie nicht. In Hamburg lebten ein paar alte Freunde aus Bremen, die aber mittlerweile alle in die Obdachlosigkeit gerutscht waren. Sie zog dennoch in den Norden und landete direkt im Pik As, einer Obdachlosenunterkunft. So wurde aus der unsicheren Frau aus Worpswede eine Frau ohne Job und festen Wohnsitz.

Auf der Straße sind Frauen Freiwild

Auf der Straße trifft sie schließlich Roberto. Mit ihm wohnt sie fünf Jahre lang in Obdachlosen-Unterkünften oder draußen am Hafen. Dass sie zufällig schwanger wird, ist - so absurd es erscheint - ihre Rettung.

"Für Frauen wie Nadine bedeutet der Rauswurf durch den Mann oft auch einen Rauswurf aus ihrem Leben", sagt Holger Brandenburg, Mitbegründer von Unsichtbar e. V., einem Verein, der die Wiedereingliederung ehemaliger Obdachloser begleitet. "Frauen, die glauben, optisch oder leistungstechnisch unterhalb der Norm zu liegen, verlieren häufig den Boden unter den Füßen, wenn ein Partner sie gefühlt einfach wegwirft. Danach erleben sie auf der Straße eine andere Härte als Männer, sie sind sexuelles Freiwild." Es sei, so Brandenburg, ein mühsamer Prozess, sie zurück auf einen Weg des Vertrauens zu bringen.

Wenn die Kinder in der Kita sind, verkauft Nadine Obdachlosenzeitungen

Nadine ist auch heute noch einfach nur froh, wenn ein Tag halbwegs normal verläuft. Ohne dass das Jugendamt unangekündigt vor der Tür steht. Ohne dass Roberto irgendwo abtaucht und sie tagelang nichts von ihm hört und einen Rückfall befürchten muss.

Morgens um sieben steht sie auf, schmiert Brote, kämmt die Mädchen, putzt ihre Zähne und bringt sie zur Kita. Dann fährt sie zu "Hinz&Kunzt". Am Anfang schämte sie sich, wenn Eltern aus der Kita sie mit den Obdachlosen-Zeitungen im Arm zufällig auf der Straße sahen, und drehte sich weg. Doch irgendwann verwandelte sich ihre Scham in Trotz. Alles, was zählt, sei, dass sie ihre Kinder versorgen muss. "Ich habe keine Kraft, mir den Kopp zu machen, was andere Leute über mich denken", sagt sie.

Nachmittags sitzt sie auf einem der Spielplätze des Viertels zwischen Müttern mit Kaninchenfell-Jacken und teuren Kinderwagen und Müttern, die Apfelschnitze und Bananenscheiben in Tupperschüsselchen mitbringen, weil die Snacks beim Deli an der Ecke zu teuer sind.

Für die ersteren sei sie einfach unsichtbar, sagt Nadine. Mit den anderen unterhalte sie sich manchmal. "Ich habe zwei Freundinnen im Block. Die eine ist alleinerziehend mit sechs Kindern. Die andere lebt auch von der Stütze, der Mann ist nie da."

"Eine andere Mutter hat ganz schön geschluckt, als sie unsere Wohnung sah"

Die Einzigen, die keine sozialen Unterschiede bemerkten, seien die Kinder. "Jeder spielt mit jedem, egal, ob die Eltern in einer Villa wohnen oder in einer Sozialwohnung." Nachmittags, wenn Freundinnen der Töchter zu ihr nach Hause kommen, spielen sie in der Barbie-Höhle oder backen Kekse in Nadines Mini-Küche. Aber selbst das sei eine Herausforderung, vor der sie gut überlegen müsse, woher sie das Geld für die Backzutaten nehmen soll.

"Eine Mutter hat mal ganz schön geschluckt, als sie unsere Wohnung sah. Sie grüßt mich immer noch freundlich in der Kita. Aber das Mädchen kommt nicht mehr zu uns." Ob sie das verletzt? Wenn, zeigt Nadine es nicht. Sie hat sich eine dicke Haut zugelegt. "So ist das eben", ist alles, was sie sagt.

Der Weg in ein "normales Leben" ist lang

Mittwochs geht sie manchmal zu Ausflügen mit anderen Familien vom Gemeindehaus. Sie machen Picknick im Wald oder gehen gemeinsam ins Schwimmbad. Die Ausflüge sind organisiert und subventioniert. Nadine merkt daran immer wieder, dass ihr Weg "in die Mitte der Gesellschaft", wie sie es nennt, noch lang ist.

Endlich selber planen können, was sie mit ihren Töchtern macht, und nicht überlegen müssen, ob der Eintritt ins Freibad zu teuer ist. Endlich nicht mehr jeden Schritt, den sie in Bezug auf ihre Mädels unternimmt, mit dem Jugendamt oder Sozialarbeitern diskutieren. Das wäre eine neue Freiheit. Im Moment fühlt sie sich häufig eingeengt, beobachtet, kontrolliert. Aber natürlich weiß sie selbst, dass das alles im Vergleich zur Straße nichts ist.

Nadines Traum: Campen an der Ostsee

Was ihr wirklich fehle, sei der Alltag mit Roberto. Dass er nicht in ihre Wohnung dürfe, mache die Sache als Paar schwer. "Aber wir haben keine Wahl. Sonst nimmt das Jugendamt uns die Kinder weg. Und darauf haben wir keinen Bock." Also kooperiert Nadine mit der Behörde.

Die Frage, ob ein Ex-Junkie ein guter Vater sein kann, stellt sie sich nicht. Sie selbst habe mit Drogen nie etwas am Hut gehabt, und Roberto liebe seine Töchter und kümmere sich, so weit es geht. Sie weiß aber auch, dass er erst gesund werden muss, bevor sie mit ihm eine Zukunft haben kann. Mithilfe eines Arztes soll das Methadon gedrosselt werden, bis er es nicht mehr braucht. Und dann? Gibt es einen Traum? "Campen an der Ostsee", sagt Nadine. "Zu viert, wie eine ganz normale Familie."

BRIGITTE 25/17

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