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Ein Gespräch mit Angela Merkel

Vor der Entscheidung: Kanzlerkandidatin Angela Merkel im persönlichen Gespräch mit BRIGITTE: "Wenn man mit Politik anfängt, ist die Gefahr groß, dass man nicht mehr herauskommt."

BRIGITTE: Deutschland wählt am 18. September 2005. Sie, Frau Dr. Merkel, dürfen jetzt schon wählen. Erstes Thema: Worüber möchten Sie lieber sprechen - Frühstück oder Abendessen?

Angela Merkel: Lieber spreche ich übers Abendessen. Ich frühstücke sehr gern, wenn ich mich aber entscheiden muss über den weiteren Fortgang des Interviews, dann entscheide ich mich für das Abendessen.

BRIGITTE: Ist es ein Ritual für Sie?

Angela Merkel: Als Kind habe ich mich oft darüber geärgert, dass wir immer Punkt 18 Uhr zum Abendbrot kommen mussten. Zu dieser Zeit läuteten die Glocken – mein Vater war ja Pfarrer -, und dann haben wir gegessen. Als ich dann zum Studium nach Leipzig ging, war plötzlich keiner mehr da, der mich um 18 Uhr zum Abendbrot trieb. Ich war manchmal richtig traurig, dass diese Gewohnheit weggefallen ist. Ich aß irgendwann, manchmal aß ich auch überhaupt nicht. Dann wachte ich nachts auf und hatte Hunger und alles war durcheinander. So wurde mir klar: Du musst dir selber Regeln setzen.

BRIGITTE: Weg von der Familie war also eine große Veränderung?

Angela Merkel: Ich denke, dass man sich bis zwanzig am meisten verändert. Der Bruch zwischen der Physikerin und der Politikerin zum Beispiel bezog sich nur auf meine Tätigkeit, nicht auf mich als Mensch. Der größte Bruch passiert in der Phase zwischen der Kindheit und dem Ende der Pubertät, wo man eine Frau wird.

BRIGITTE: Man gewinnt Freiheit . . .

Angela Merkel: . . . ja, aber man ist dann auf sich allein gestellt und muss erkennen, dass man zwar die Freiheit hat, aber die Leitplanken der Gewohnheit wegfallen. Man muss neu herausfinden, was man überhaupt will. Ich hatte zum Beispiel als Kind immer das Gefühl, dass ich zu wenig Most zu trinken bekam - Apfel- und Kirschmost waren bei uns knapp. Als Studentin hatte ich zwar wenig Geld, aber genug, um mir eine ganze Kiste Mostflaschen zu kaufen, doch plötzlich war das Bedürfnis gar nicht mehr so dringlich.

BRIGITTE: Und heute? Was war Ihr schönstes Abendessen in letzter Zeit?

Angela Merkel: Ich esse ja jetzt meistens zu spät am Abend. Für mich ist das Abendessen eher zum Abschluss des Abends geworden - und damit der Arbeit.

BRIGITTE: Das heißt, wann?

Angela Merkel: Jetzt im Wahlkampf nach der letzten Rede: nie vor zehn. Ziemlich ungesund, ich weiß, besser wäre es sicherlich, ich würde um sechs Uhr ein Schnittchen essen. Oder eine Brezel wie beim legendären Frühstück mit Herrn Stoiber... 

BRIGITTE: Aber wir bleiben - wie gewünscht - beim Abendessen. Wann essen Sie mal mit Ihrem Mann?

Angela Merkel: Innerhalb der Woche fast nie - nur im Urlaub. Samstags essen wir fast immer zusammen, sonntags manchmal.

BRIGITTE: Sie dürfen wieder wählen: Freundschaft oder Konkurrenz - worüber möchten Sie lieber sprechen?

Angela Merkel: Da möchte ich doch lieber über Freundschaft sprechen.

BRIGITTE: Sind Sie eine gute Freundin?

Angela Merkel: Früher war ich, glaube ich, eine gute Freundin. Inzwischen bin ich keine besonders aufmerksame Freundin mehr, weil ich sehr wenig Zeit habe. Freundschaften bedürfen eines gewissen Zeitaufwands, insofern hat das schon sehr gelitten. Ich hoffe, dass eines Tages, wenn ich einmal nicht mehr in der Politik bin, noch genug alte Freundschaften übrig sind, die ich wiederbeleben kann. Aber vom Typus her bin ich eine gute Freundin.

BRIGITTE: Sind Sie vor allem mit Frauen befreundet, oder gibt es auch männliche Freunde?

Angela Merkel: Sicherlich gibt es männliche Freunde. Aber wenn ich an die Jugend denke: In der Clique waren zwar auch Jungs - aber besprochen habe ich alles mit Mädchen. In der erweiterten Oberschule, wie damals das Gymnasium hieß, hatte ich zwei Freundinnen. Und auch das ging sehr gut - obwohl es ja immer heißt: Drei sind einer zu viel.

BRIGITTE: Reden Sie mit privaten Freunden auch über Politik?

Angela Merkel: Die Gefahr dabei ist immer, dass über dem Absprechen von Politik der ganze Abend vergeht und ich gar nicht zu dem komme, was mich von den anderen interessiert. Bei den Freundschaften, die mein Mann und ich gemeinsam haben, reden wir oft auch einen ganzen Abend, ohne mit der Politik anzufangen. Wenn man mit der Politik anfängt, ist die Gefahr groß, dass man da nicht mehr herauskommt.

BRIGITTE: Das gilt dort wie für das ganze Leben. . . Frau Dr. Merkel, Sie sind die erste Kanzlerkandidatin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das hat einen hohen symbolischen Wert, vor allem für Frauen. Ist Ihnen das nicht manchmal unheimlich?

Angela Merkel: Für mich als Frau ist es natürlich schwer einzuschätzen, ob der Druck größer ist als bei einem Mann. Woher soll ich wissen, ob es ein besonderer Druck ist? Sicherlich verbindet sich mit einer Frau eine besondere Erwartung, aber ich neige dazu, mich nicht ständig dieser Erwartung auszusetzen.

BRIGITTE: Aber Sie werden natürlich als Frau schärfer beobachtet. Fühlen Sie sich Frauen besonders verpflichtet?

Angela Merkel: Aus der Tatsache heraus, dass ich sehr stark beobachtet werde, würde ich es - jenseits der politischen Überzeugung - schon gern ordentlich machen.

BRIGITTE: Für Frauen ordentlich machen?

Angela Merkel: Für Männer auch. Man soll ja nicht sagen können: Weil sie eine Frau war, hat sie es nicht ordentlich gemacht. Trotzdem beschäftige ich mich nicht dauernd damit, wie anders die Situation jetzt ist. Ich möchte zu so großen Teilen wie möglich so sein, wie ich bin. Es gibt bei mir keine Überhöhung dieses Lebensabschnittes.

BRIGITTE: Das gelingt Ihnen immer? Keine schwachen Momente?

Angela Merkel: Wenn ich Zeit habe und darüber nachdenke, wird mir die Erwartung schon bewusst, keine Frage. Wenn ich dann aber ganz normale Dinge mache wie Einkaufen, merke ich, dass alles so ist, wie es vorher auch war. Die Brötchen kommen nicht schneller in den Wagen.

BRIGITTE: Diese Normalität beruhigt Sie?

Angela Merkel: Ja, ich suche sie sogar. Damit ich die Bodenhaftung nicht verliere.

BRIGITTE: Ihre Biografen beschreiben Sie als jemanden, der sich immer wieder überprüft. Vertrauen Sie Ihrer Selbstkritik?

Angela Merkel: Nicht ausschließlich. Es wäre vermessen, würde man sich nur selbst trauen, zumal das im Umkehrschluss bedeutet, dass man anderen ganz wenig traut. Es ist wichtig für die eigene Entwicklung, sich mit der Wahrnehmung anderer zu konfrontieren. Dennoch habe ich, so glaube ich, ein ganz gutes Einschätzungsvermögen. Wenn andere gesagt haben: "Das war gut", habe ich selbst oft gewusst, dass es zwar okay war, aber auch besser hätte sein können.

BRIGITTE: Zum Beispiel?

Angela Merkel: Gerade bei meinen Reden nehme ich mir eine andere Art von Auftritt vor - aber dann mache ich es doch so, wie ich es immer gemacht habe. Das Erstaunlichste sind für mich aber immer die Sachen, die ich selbst gar nicht wahrgenommen habe. Manchmal sagt man mir: Du hast schon wieder gefuchtelt - dabei hätte ich schwören können, dass ich ganz ruhig dagesessen habe.

BRIGITTE: Nächstes Thema: Angst oder Einsamkeit?

Angela Merkel: Einsamkeit.

BRIGITTE: Haben Sie Angst vor Einsamkeit?

Angela Merkel: (Merkel lächelt.) Nein. Ich habe nach der deutschen Einheit öfter an einen Satz von Václav Havel denken müssen: Für ein Volk, das in Unterdrückung gelebt hat, ist es schwer, von der Freiheit voll bewusst Gebrauch zu machen. Die volle Wucht der Freiheit, in der man alles selbstverantwortlich entscheiden muss, hat auch eine kleine Komponente Einsamkeit, darüber haben wir vorhin geredet. Wir assoziieren mit Einsamkeit etwas Trauriges. Sie kann aber auch schöne Komponenten haben, genauso wie bedrückende. Menschen, die nie allein sein können, immer Musik oder jemanden um sich herum haben müssen, bedauere ich eher.

BRIGITTE: Politik ist ein einsames Geschäft, heißt es. Besonders an der Macht.

Angela Merkel: Natürlich kann ich mich auch als Chef - Parteivorsitzende, Fraktionsvorsitzende - mit vielen Menschen beraten. Aber zum Schluss kann einem niemand die Entscheidung abnehmen. Das ist mit dem Chefposten unauflöslich verbunden. Wenn es gut geht: prima. Wenn nicht, muss man bereit sein, die Prügel einzustecken. Das bedeutet auch, dass man in einem bestimmten Umfang Anrecht auf Gefolgschaft hat.

BRIGITTE: Was war für Sie eine besonders einsame Entscheidung?

Angela Merkel: Als es letztes Jahr um die Wahl des Bundespräsidenten ging - das war eine der schwierigsten politischen Entscheidungen für mich. Ich wusste nicht: Wen schlägt die SPD vor? Wie verhalten sich die Grünen? Was macht die FDP?

BRIGITTE: Damals hieß es ja auch: Jetzt muss sie beweisen, was sie als Chefin kann...

Angela Merkel: Richtig.

BRIGITTE: Wird man mit der Zeit nicht immer misstrauischer?

Angela Merkel: Ein bisschen besteht die Gefahr, ständig überprüfen zu müssen, ob die Menschen nett zu dir sind, weil du bekannt bist, weil sie sich Vorteile erhoffen - oder weil sie dich als Menschen gut finden. Man wird sicherlich aufmerksamer, wem man etwas erzählt. Es wird viel gesprochen. Früher war ich oft sehr vertrauensselig, dann musste ich erleben, dass gewisse Dinge davon in der Zeitung standen, das ist dann sehr ärgerlich. Aber damit lernt man umzugehen.

BRIGITTE: Kein gutes Klima für Freundschaften.

Angela Merkel: Aber schauen Sie sich doch mal um, wie viele große Freundschaften in anderen Betrieben entstehen, zum Beispiel in Ihren Zeitungsredaktionen. Wenn jemand ausscheidet, können Sie zusehen, wie lange die Beziehung noch hält. Nur ganz selten bleibt eine Freundschaft. Ich würde sagen, dass die Politik an dieser Stelle relativ normal ist, es spielt sich nur mehr in der Öffentlichkeit ab. Warum schauen die Leute denn so gern Arzt- und Anwaltsserien? Weil sie genau das sehen, was sie jeden Tag erleben.

BRIGITTE: Entscheiden ist für Sie längst Gewohnheit. Wie wirkt sich das privat aus, wenn Probleme auftauchen? Werden Sie dann auch zur Chefin?

Angela Merkel: Ich bin froh, dass ich meinen Mann habe.

BRIGITTE: Der ist da resistent?

Angela Merkel: Ja. Denn es gibt die Gefahr, dass man die Sachen einfach nur vom Tisch haben will. Noch gefährlicher vielleicht, dass man zu schnell entscheidet. Manchmal bin ich auch erschöpft, und dann fällt mir das Entscheiden schwerer. In jedem Fall: Was das Private anbelangt, ist mein Mann ein gutes Korrektiv.

BRIGITTE: Dann passt das nächste Begriffspaar: Liebe oder Ehe?

Angela Merkel: (Merkel lacht.) Wird ja immer verrückter! Ich nehme Ehe, wobei ich mich als Erstes dagegen verwahren muss, dass das eine Alternative ist.

BRIGITTE: Sie müssen weder ohne Frühstück leben noch ohne Liebe.

Angela Merkel: Ehe ohne Liebe finde ich nun weitaus härter als Abendessen ohne Frühstück.

BRIGITTE: Sie sind kein so großer Ehe-Experte wie der Bundeskanzler, aber auch Sie sind zum zweiten Mal verheiratet. Eine Frage des Schriftstellers Max Frisch: Wann überzeugt Sie die Ehe als Einrichtung mehr - wenn Sie diese bei anderen sehen oder in Ihrem eigenen Fall?

Angela Merkel: Natürlich kann man das auch in Bezug auf Freunde oder die eigenen Eltern betrachten, aber ich beziehe das auf mich selbst.

BRIGITTE: Dürfen wir Sie dann fragen, warum es bei Ihrem zweiten Mann so lange gedauert hat, acht Jahre, bis Sie schließlich geheiratet haben?

Angela Merkel: Ich wollte es mir auf keinen Fall zu leicht machen, nicht ein erneutes Scheitern zulassen. Ich wollte außerdem auf keinen Fall, dass man sagt: Die heiratet, weil sie in der CDU ist und sonst nicht Frauenministerin sein kann. Wenn ich nicht in die Politik gegangen wäre, hätte ich wohl ein paar Jahre früher geheiratet. Als wir dann in die Opposition kamen, konnte keiner sagen, ich hätte um meiner Karriere willen geheiratet.

BRIGITTE: Was macht für Sie einen Mann attraktiv?

Angela Merkel: Grundsätzlich finde ich Menschen attraktiv, die ich als authentisch wahrnehme. Außerdem schätze ich Menschen, die auch mal schweigen können. Im Übrigen ist es sicher so, dass sich Gegensätzlichkeiten anziehen. Ich empfinde es als Bereicherung, wenn ein und derselbe Sachverhalt vom Partner ganz anders bewertet wird.

BRIGITTE: Gibt es irgendetwas, worum Sie Männer beneiden?

Angela Merkel: In der Politik, dass sie eine tiefere Stimme haben.

BRIGITTE: Weil sie damit gleich mehr Autorität ausstrahlen, während Frauen abgleiten . . .

Angela Merkel: . . . ins Schrille, ja.

BRIGITTE: Bedauern Sie heute, dass Sie keine Kinder haben?

Angela Merkel: Das hat sich nicht ergeben. Ich hadere mit diesem Schicksal nicht, aber es war auch keine prinzipielle Entscheidung.

BRIGITTE: Könnten Sie sich vorstellen, politisch so erfolgreich und weit oben zu sein, wenn Sie Kinder hätten?

Angela Merkel: Ich habe darüber neulich mit Frau Brundtland, der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin, gesprochen: Frauen, die Kinder erziehen, machen wahrscheinlich eher später politische Karriere. Ich hätte als 20-Jährige ein Kind bekommen können, das wäre dann 1990 schon 15 gewesen. So wie ich zu einem relativ späten Zeitpunkt Quereinsteigerin in die Politik war, kann das auch Frauen gelingen, die schon relativ erwachsene Kinder haben. Allerdings war in den Umbruchzeiten der Wende alles noch dramatischer.

BRIGITTE: Das Stichwort Wende greifen wir auf. Worüber sprechen wir jetzt: Ost oder West?

Angela Merkel: Da nehmen wir den Westen.

BRIGITTE: Sie haben mal gesagt: Während man im Osten mit jeder Kleinigkeit aufgefallen ist, verhält es sich im Westen genau umgekehrt - man muss schon viel unternehmen, um aufzufallen. Hat Sie diese Erkenntnis verändert?

Angela Merkel: Ich habe beobachtet: Wenn ich mich meines Erachtens sehr klar ausgedrückt habe, hat keiner etwas mitbekommen. Im Westen ist die Eigenschaft, zwischen den Zeilen zu lesen und daraus die Meinung zu erkennen, schwächer ausgeprägt. Daraus entstand sicher eine Zeit lang der Vorwurf, man wisse nicht genau, was ich will. Natürlich hat mich das verändert: Ich kann mich nicht auf kleine Hinweise verlassen, sondern muss prononcierter herausstellen, wo der Unterschied liegt.

BRIGITTE: Aber als Kind haben Sie eher versucht, nicht aufzufallen?

Angela Merkel: So war es nicht, ich bin ja immer aufgefallen. So unscheinbar konnte man gar nicht sein. In der Uckermark reichte es schon, wenn man - wie ich - Kunstpostkarten gesammelt hat. Insofern: Ich konnte schon damit umgehen aufzufallen. Es war eher so, dass ich anfangs im Westen weniger aufgefallen bin.

BRIGITTE: Was hat Sie am Westen enttäuscht?

Angela Merkel: Im Westen kann man seine Meinung frei äußern, ohne gleich ins Gefängnis zu kommen. Trotzdem gibt es viele Mechanismen, die dazu führen, dass Menschen auch hier ihre Meinung nicht offen sagen. Das hat mich etwas enttäuscht. Es wird heute viel hinter dem Rücken geredet, und viele tun sich sehr schwer, dem anderen ins Gesicht zu sagen, was ihnen nicht passt.

BRIGITTE: Ihre Konsequenz?

Angela Merkel: Ich bemühe mich in meiner politischen Arbeit sehr, diejenigen zu belobigen, die schlechte Botschaften überbringen, die mir also mal die Meinung sagen. Sie müssen die Erfahrung machen, dass sich das auszahlt.

BRIGITTE: Vorhin sprachen Sie aber vom Anrecht auf Gefolgschaft . . .

Angela Merkel: Ja, in manchen Situationen ist das nicht leicht in Einklang zu bringen. Dennoch versuche ich diejenigen zu stärken, die den Mut aufbringen, eine Meinung zu vertreten, ohne gleich einen Zweck im Hinterkopf zu haben. Wäre diese Eigenschaft ausgeprägter, würde das die ganze Debattenkultur im Lande befördern. Angesichts der Probleme in Deutschland können wir uns eine Instrumentalisierung von Debatten nicht leisten. Vorgefertigte Meinungen sollte es nicht geben. Wir müssen unseren Kopf anstrengen, um die Probleme zu lösen.

BRIGITTE: Frau Dr. Merkel, Sie sind Physikerin, auf dem Fest zu Ihrem 50. Geburtstag haben Sie sich die Rede eines Hirnforschers gewünscht. Wählen Sie also das Thema: Relativitätstheorie oder Hirnforschung?

Angela Merkel: Ich nehme die Hirnforschung. Da erwartet keiner, dass ich etwas davon verstehe.

BRIGITTE: Das heißeste Thema auf diesem Gebiet: Hirnforscher bezweifeln, dass wir Menschen einen freien Willen haben.

Angela Merkel: Die moderne Hirnforschung ist sehr faszinierend. Aber manche Thesen, die daraus abgeleitet werden, erinnern mich an die vermeintliche Erkenntnis der Kosmonauten, die gesagt haben: Wir waren im Weltraum, aber haben Gott nicht gesehen. Die Debatte um den freien Willen sollten die Hirnforscher den Philosophen überlassen.

BRIGITTE: Ihr Werdegang ist also mehr als eine Serie von Neuronenschaltungen im Gehirn . . .

Angela Merkel: Alles, was ich denke, fühle und sage, ist Ausdruck meiner eigenen Persönlichkeit, davon bin ich überzeugt. Die Gesamtheit der Persönlichkeit ist mehr als die Summe der wissenschaftlich nachvollziehbaren Einzelheiten. Anders ausgedrückt: Wenn ich die Pinselstriche auf einem Bild zähle, weiß ich dennoch nicht, ob das Kunst ist. Deshalb empfinde ich keine Bedrohlichkeiten von der Naturwissenschaft, da bin ich ganz ruhig.

BRIGITTE: Ein Gedanken-Experiment: Stellen Sie sich vor, Sie kommen in einen Raum, in dem zehn Angela Merkels sind, die Schülerin, die Studentin, die Umweltministerin usw. Was für ein Treffen wäre das?

Angela Merkel: In jedem Fall ein sehr harmonisches.

BRIGITTE: Was würden Sie mit Ihren früheren Ichs besprechen?

Angela Merkel: Ich würde meine Erinnerung überprüfen, um zu erfahren, ob sie noch mit der Realität von damals übereinstimmt. Man neigt ja dazu, nur die guten Sachen zu behalten. Oder auch nicht, je nach Naturell. Ich jedenfalls tendiere dazu, überhöhe in der Erinnerung ausgewählte Sachen und stelle andere in den Hintergrund.

BRIGITTE: Letztlich glauben Sie daran, dass sich im Leben Glück und Unglück unterm Strich die Waage halten - so werden Sie jedenfalls oft zitiert.

Angela Merkel: Ich glaube zunächst einmal, dass der emotionale Haushalt jedes Menschen endlich ist: Ich kann mich an einem Tag nicht unendlich viel freuen oder unendlich viel ärgern. Das ist auch ein Selbstschutz. Natürlich gibt es Phasen, in denen nicht so viel gelingt, andere, in denen mehr gelingt.

BRIGITTE: Was haben Sie auf Ihrem Weg verloren?

Angela Merkel: Eine gewisse Leichtigkeit, aber das ist sicher mit wachsendem Lebensalter ohnehin so.

BRIGITTE: Was genießen Sie besonders?

Angela Merkel: Gut schlafen - das ist schön.

BRIGITTE: Schlafen Sie gut?

Angela Merkel: Da ich nicht immer gut schlafe, ist es schön, wenn ich gut schlafe. Das kommt glücklicherweise vor. Leuten, die immer gut schlafen, fällt gar nicht auf, dass das nicht selbstverständlich ist.

BRIGITTE: Können Sie noch Dinge zweckfrei tun?

Angela Merkel: Ich hoffe doch.

BRIGITTE: Ihr Pflaumenkuchen ist bereits berühmt.

Angela Merkel: Den Pflaumenkuchen backe ich sicher nicht zweckfrei, sondern meist meinem Mann zuliebe.

BRIGITTE: Können Sie am Wochenende abschalten?

Angela Merkel: Sehr gut - wenn nicht bedrückende Sachen im Hintergrund stehen.

BRIGITTE: Gibt es ein Ritual, das Ihnen hilft?

Angela Merkel: Wenn ich mich umziehe, Jeans und legere Kleidung anziehe.

BRIGITTE: Noch ein Gedanken-Experiment: Stellen Sie sich vor, Sie sind Kanzlerin . . .

Angela Merkel: . . . da bin ich abergläubisch. Diese Frage beantworte ich Ihnen nicht.

BRIGITTE: Dann tun wir einfach so, als wären Sie in fünf Jahren noch Politikerin: Welche Ihrer Eigenschaften möchten Sie auf keinen Fall verlieren?

Angela Merkel: Den optimistischen Blick auf die Welt, den möchte ich auf keinen Fall verlieren.

Interview: Brigitte Huber und Andreas Lebert<br/><br/>BRIGITTE 18/05

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