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Mütter-Kampagne "Faces of Moms*" "Wir wollen die Störenden sein und Impulse setzen"

Nicole Noller und Natalie Stanczak (rechts)
Gründerinnen-Duo Nicole Noller und Natalie Stanczak (rechts)
© www.sandsackfotografie.de
Nicole Noller und Natalie Stanczak haben mit der Kampagne "Faces of Moms*" eine Plattform geschaffen, auf der Mütter ehrliche Statements abgeben. Sie antworten immer auf drei Fragen: Was ist deine größte Herausforderung? Was ist dein größter Abfuck? Was würde dir helfen? Die beiden Gründerinnen wollen die Vielfalt von Mutterschaft sichtbar machen und die strukturelle Benachteiligung, die Fürsorgepersonen erleben. Ihr Ziel ist eine Community, die füreinander eintritt.

Die Kampagne "Faces of Moms*" begann auf Instagram und hat dort mehr als 13.000 Follower. Dazu gibt es den gleichnamigen Podcast mit dem Claim "Wie geht es dir wirklich?" und das Buch "Bis eine* weint!", das Mütter porträtiert, die den Status Quo hinterfragen und ihre täglichen Probleme beschreiben. Ob Mom of Color, Muslima, DJane, Hauptverdienerin oder Vollzeit-Mutter, sie alle geben Einblicke in ihren Alltag und inspirieren auf eigene Weise.

Die beiden Gründerinnen haben selbst jede zwei Kinder. Nicole Noller, 37, ist Eventmanagerin und arbeitet als festangestellte Senior Projektmanagerin. Natalie Stanczak, 38, ist Soziologin und selbstständige Fotografin bei Sandsackfotografie. Sie liebt es, das Alltägliche in Familien zu dokumentieren. Mit dem Projekt "Faces of Moms*" hat sie beide Leidenschaften verbunden. Im Interview erzählt sie stellvertretend für das Gründerinnen-Duo von den Erkenntnissen nach mehr als 500 Interviews, von Wow-Momenten und ihrer nächsten Vision.

BRIGITTE: "Faces of Moms*" entstand 2020 während des ersten Corona-Jahrs, in dem Familien und besonders Mütter an ihre Belastungsgrenzen stießen. Wie kam es zu der Idee?

Ich bin Soziologin, strukturelle Ungleichheit war seit meinem Studium ein Teil meiner Arbeit. Nicole und ich sind seit 20 Jahren befreundet, wir haben den Prozess des Mutterwerdens gemeinsam erlebt. Wir waren die Schwangeren, die Stillenden, wir blieben zu Hause bei den Kindern, gingen in Teilzeit. Und fragten uns, warum wir es nicht schaffen, unsere Lohnarbeit, die Kinder, den Haushalt, unsere Partnerschaften und uns selbst zu jonglieren.

Dann kam die Pandemie, unsere Infrastruktur brach zusammen und wir merkten, dass es vielen Familien ähnlich ging. Die Pandemie war wie ein Brennglas, sie zeigte, wie selbstverständlich es für Politik und Gesellschaft war, dass hauptsächlich Frauen die Care-Arbeit übernahmen. Plötzlich entstand Raum für das Thema, Medien und Wissenschaft nahmen es auf. Viele merkten, dass die persönliche Situation kein Einzelfall war, sondern ein Massenphänomen. Etwas stimmte ganz und gar nicht – und das lag nicht an uns Müttern und Care-Givern.

In eurer ersten Podcastfolge berichtet Nicole von einem Schlüsselmoment in ihrem Pekip-Kurs. Die Leiterin fragte: "Wie geht es euch?" Alle antworteten, ohne die echten Herausforderungen anzusprechen. Die Reaktion der Kursleitung: "Und jetzt noch einmal – wie geht es euch wirklich?" Es entstand ein intensiver Austausch. Ist es das, was "Faces of Moms*" will?

Ja auch. Unsere Kampagne versucht die Lebensrealitäten von Müttern und Sorgepersonen sichtbar zu machen in all den Facetten, die Care-Arbeit mit sich bringt. Ehrliche Aussagen gibt es im Mütterkontext selten. Wenn eine sagt: "Ich schaffe das nicht mehr!", folgt oft die Floskel "Unsere Mütter haben das auch geschafft und die hatten es nicht so gut." Es schwingt die Bewertung mit, man dürfe sich nicht beklagen. Wir Mütter vergleichen uns untereinander, weil der Mythos der guten Mutterschaft und zu hohe gesellschaftliche Erwartungen in uns stecken.

Durch "Faces of Moms*" sehen wir, dass eine ehrliche Kommunikation möglich ist. Das tut vielen gut, vor allem zu verstehen, dass es kein individuelles Versagen ist, sondern Elternschaft durch strukturelle Komponenten erschwert ist. Wenn ich mich allein fühle und um 3h nachts auf dem Handy das Statement einer anderen Mutter lese, die ihren größten Abfuck beschreibt, merke ich: Ich bin kein Einzelfall. Das kann extrem hilfreich sein und verbinden.

Wie habt ihr losgelegt?

Es dauerte ein Wochenende, dann hatten wir das Logo, den Kampagnennamen und die Interviewfragen. Anfangs baten wir all unsere Freundinnen, mitzumachen. Schon nach wenigen Wochen merkten wir: Unsere Kampagne und das Thema stoßen auf ein großes Echo. Die plakativen Statements in Verbindung mit den persönlichen Fotos kamen gut an. Sie lösten sowohl Empörung als auch Zustimmung aus, auf jeden Fall Emotionen.

Nur drei Monate nach unserem Start schrieb uns unsere jetzige Verlegerin an, ob wir ein Buch daraus machen wollen. So haben wir parallel zum Aufbau unserer Instagram-Kampagne schon am Buch gearbeitet. Später kam die Idee dazu, im Rahmen unserer Lesungen auch Podiumsdiskussionen und eine Ausstellung mit meinen fotografischen Arbeiten zu integrieren, um auf verschiedenen Wegen das Thema aufzuarbeiten.

Wollt ihr eine Art Lobby für Mütter sein?

Wir versuchen sichtbar zu machen, was für die Mehrheit der Gesellschaft unsichtbar ist. Politiker:innen und Journalist:innnen müssen unsere Arbeit fortsetzen und einen Diskurs führen, wie wir es solidarisch schaffen, Strukturen zu ändern. Wir möchten nicht in die Politik gehen. Wir wollen die Störenden sein, Impulse setzen. Uns ist bewusst, dass wir zu den Privilegierten gehören, die Zeit für so ein ehrenamtliches Projekt aufbringen konnten, ohne in finanzielle Not zu geraten.

Unsere Stärke ist das Community-Building. Auf unseren Podiumsdiskussionen und Ausstellungen haben Mütter und Sorgepersonen die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Wir wollen nicht für irgendjemanden die Stimme sein. Jede:r hat eine eigene Stimme und wir möchten die Plattform dafür bieten. Dabei muss uns bewusst sein, dass nicht jede Sorgeperson öffentlich über ihre Diskriminierungen sprechen kann, da das auch zu Stigmatisierungen führen kann. Deshalb gibt es die Möglichkeit anonymer Interviews.

Ist Vernetzung ein ebenso wichtiger Teil der Kampagne wie die ehrlichen Statements?

Ja. Viele schreiben uns, dass sie durch uns interessante Personen kennengelernt haben, mit denen sie sich nun austauschen. Das passiert online als auch offline. Im Herbst hatten wir ein Event in Stuttgart, bei dem die Speakerin und Autorin Anna Mendel dabei war, die viel über pflegende Elternschaft schreibt. Eine pflegende Mutter aus unserer Community ist extra eine Stunde aus Mannheim gereist, um Anna zu sehen und zu treffen. Das war ein echter Wow-Moment für uns.

Was ist eure Vision für "Faces of Moms*", um solche Wow-Momente zu schaffen?

Jede Veranstaltung fühlt sich nach Empowerment an. Mit einigen Menschen, die wir für unser Buch interviewt haben, verbinden uns nun Freundschaften. Wir würden gerne mehr solcher Verbindungen ermöglichen. Unser Traum ist ein eigenes "Faces of Moms*"-Festival.

Das klingt spannend. Ist das schon in der Umsetzung?

Es ist erst eine Idee. Ich bringe gerne neue Visionen hervor, die durch Nicole oft den Realitätscheck durchlaufen. Nicole arbeitet als Projektmanagerin. Sie kennt sich sehr gut mit allen organisatorischen Dingen aus. Deshalb ergänzen wir uns so gut. Ein Festival können wir leider momentan nicht stemmen, aber mal sehen, was alles so entstehen wird.

Wie viel Zeit steckt ihr in die Kampagne?

Zwei bis drei Stunden pro Woche. Dazu kommt unser monatlicher Podcast, der rund drei Stunden Zeit in Anspruch nimmt. Ich bin selbständig als Fotografin und kann mir die Zeit flexibel einteilen, Nicole ist in ihrer Lohnarbeit stark eingebunden. Manchmal schaffen wir es nicht einmal, einen Telefontermin miteinander auszumachen. Wir bekommen immer mehr Mailanfragen von Menschen, die mitmachen oder mit uns kooperieren wollen. Das ist so schön, erzeugt aber auch Druck, da wir mit der Beantwortung der Anfragen nicht immer zeitnah hinterherkommen. 

Was hat sich durch "Faces of Moms*" bei dir persönlich verändert?

Die vielen Aspekte von Diskriminierung zu lesen, ist schmerzhaft. Ich fühle mich oft ohnmächtig. Aber gleichzeitig ist der Schmerz auch notwendig, um ins Nachdenken zu kommen. Vor allem, um die eigene Stellung in dieser Gesellschaft zu hinterfragen. Zu Hause führen wir beim Abendessen Diskussionen, die wir früher nicht geführt haben. Das ist auch schmerzhaft für unsere Partner, weil wir das Familienbild aufbrechen, das wir alle verinnerlicht haben und von dem wir dachten, so muss Familie sein. Ich bin froh, dass ich mit meinem Partner über solche Themen reden kann. Das ist nicht selbstverständlich.

Geht es euch um ein gleichberechtigteres Familienmodell?

Wir propagieren nicht das 50:50 Modell. Unsere Botschaft ist: Jede Lebensrealität ist, wie sie ist. Ohne Bewertung, ohne Tipps. Es geht darum, für strukturelle Ungleichheit zu sensibilisieren und ein Bewusstsein für den Wert von Care-Arbeit zu schaffen. Ich selbst lebe mit meinem Partner weder das klassische Modell noch 50:50. Wichtig ist für uns, dass es sich fair anfühlt. Dafür sind immer wieder Aushandlungen nötig. Zu diesen wollen wir ermutigen. Es geht nicht um das beste Familienmodell, sondern um den strukturellen Aspekt, dass Menschen mit Kindern systematisch benachteiligt werden in dieser Gesellschaft. Warum ist das so? Darüber möchten wir reden.

Wie ist der Austausch dazu in eurer Community?

Wir sind offen für Kritik und reflektieren uns fortwährend. Unsere Community hat einen sehr wertschätzenden Umgang. Dafür sind wir sehr dankbar. Sie weist uns darauf hin, Begrifflichkeiten auch selbst zu hinterfragen. Vor einiger Zeit gab uns ein trans Elter den wichtigen Impuls, dass unser Kampagnenname "Faces of Moms" Eltern ausschließt, da nicht jede Care-Person eine Mutter ist. Seitdem nutzen wir das Sternchen, um anzudeuten, dass wir Mutterschaft als politische Kategorie verstehen.

Vor diesem Interview fragten wir uns, ob wir unter der Rubrik "starke Frauen" erscheinen wollen. "Inspirierende Frauen" wäre ein passenderer Name. Wir finden, alle Menschen haben etwas Starkes in sich. Selbst diese gut gemeinte Kategorie ist auf gewisse Weise diskriminierend. Wir würden ja auch nie von "starken Männern" oder "Powermännern" sprechen.

Ihr habt bereits 541 Interviews geführt. Kannst du eine Erkenntnis nennen – was ist der größte Abfuck für Mütter und Sorgepersonen?

Es ist schwer, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Jede Sorgeperson hat unterschiedliche Chancen, Kapazitäten, Privilegien, jede* ist anders von Diskriminierung betroffen. Wir können uns nicht vergleichen. Aber für alle stellt der finanzielle Aspekt ein wichtiges Thema dar. Die finanzielle Abhängigkeit in der Partnerschaft, kein finanzieller Ausgleich für alleinerziehende und pflegende Eltern und das Machtgefälle, das dadurch entsteht. Viele haben Angst vor Altersarmut und wünschen sich, dass Care-Arbeit entlohnt würde.

Das zweite Fazit ist, dass Eltern die Community im echten Leben fehlt. Elternsein macht oft einsam. Wenn der Rahmen wegbricht, weil beispielsweise die Kita schließt, fehlt dieses Netzwerk. Es gibt keine:n Nachbar:in, der:die das Kind kurz zu sich nimmt. Oder das Kind würde das gar nicht zulassen, weil es das nicht gewöhnt ist.

Was würde helfen?

Aus finanzieller Sicht ein Grundeinkommen und die Bezahlung von Care-Arbeit, als Basis unserer Gesellschaft. Ein Aufbrechen von Geschlechterrollen und entsprechenden Erwartungen. Wichtig wäre, veraltete Gesetze aufzubrechen und den Begriff von Mutter- und Elternschaft neu zu definieren, damit dieser auch Care-Personen einschließt, die keine biologischen Mütter sind. In unserem Miteinander braucht es nicht einmal zwingend mehr Empathie. Es braucht vor allem ein Zuhören, ohne Bewertung. Insbesondere von Menschen, die nicht von dieser Thematik betroffen sind. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Brigitte

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