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Ehrenmord: Die Zeugin

Ein sogenannter Ehrenmord. Waffa wurde von ihrem Vater getötet. Ihre Schwester wagt es, vor Gericht gegen die Familie auszusagen - eine lebensgefährliche Entscheidung.

Zerbrechen oder durch. Es gibt nur das. Zerbrechen hat sie ausprobiert, es hat nicht funktioniert. Ging einfach nicht. Auch wenn sie manchmal dachte, es wäre so weit, mit einem Messer am Puls oder kauernd in einer versteckten Wohnung, wie tot. Aber Nourig Apfeld, 38, blieb am Leben. Sie sagt, da war dieses Etwas in ihr. "Der Glaube an etwas Starkes, den Kern meines Wesens. Es war nur manchmal verschüttet."

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So kommt es, dass man, nach einem langen Gespräch an einem Küchentisch in einer Wohnung in der Großstadt, in der sie jetzt lebt, fast schon denkt, was soll’s, so unerträglich kann das ja gar nicht sein, womöglich doch auszuhalten, so ein Leben: Nourig Apfeld war Zeugin des "Ehrenmords" an ihrer jüngeren Schwester, begangen vom Vater und zwei Cousins. Sie hat acht Jahre darüber geschwiegen, bis es aus ihr herausbrach, vor zwei Jahren sagte sie dazu in einem spektakulären Prozess in Bonn aus. Sie musste untertauchen, aus Angst vor der Familie, ohne Zeugenschutz, den die Polizei ihr eigentlich hatte gewähren wollen. Drei Jahre lebte sie versteckt. Das alles könnte ertäglich sein? Nein. Bei allem Lebensmut und Überlebenswillen. Wer also schafft so was? Wer überlebt das? Wie?

Nourig Apfeld aus Bonn, älteste Tochter syrisch-kurdischer Einwanderer, seit 1979 in diesem Land, ist eine kleine, schöne Frau mit hohen Wangenknochen und sehr dunklen Augen, die einen lange und direkt ansehen. Manchmal benutzt sie Sätze, die ein bisschen zu abgeschlossen klingen. Sie sagt sie schnell, mit flatternder Stimme, aber bestimmt. Sie sagt: "Es ist gut. Ich habe meinen Frieden damit gemacht. Ich bin sogar dankbar. . . " Und weil sie niemals vulgär wird, sagt sie nicht: dankbar für die ganze Scheiße, sie sagt: "für die Umstände". Auf Umstände kann man reagieren; Scheiße heißt: Wut über ein widerwärtiges Schicksal. "Und Wut", sagt Nourig Apfeld, "die ist lange vorbei."

Sie lebt wieder öffentlich. Sie zeigt ihr Gesicht, auf dem Cover des Buches*, das sie gerade geschrieben hat, und den Kameras, auch der des BRIGITTE-Fotografen: präsent und ohne Scheu. Sie wundert sich selbst, dass sie das schon schafft, "wieder so ein Zeichen", sagt sie, "dass meine Ängste nicht mehr da sind".

Ihre Geschichte soll etwas bewirken, deshalb macht sie sie öffentlich. Sie will den Frauen zeigen, dass man gehen kann, das Kollektiv verlassen. Dass man nicht schweigen muss, nur weil es die Familie so will. Und sie will zeigen, was falsche kulturelle Toleranz anrichten kann. Denn hätte sich das Jugendamt in ihre Familie eingemischt, damals, Ende der 80er, als ihre Schwester verzweifelt versuchte, herausgeholt zu werden, "dann", sagt Nourig Apfeld und schaut mit ihrem ruhigen, beharrenden Blick, "würde Waffa noch leben". Doch die Sachbearbeiter glaubten den Lügen des Vaters, seine Töchter würden zu Hause nicht geschlagen, und nannten den Konflikt ethnisch und religiös bedingt. Als wären Schläge für Allah kein Verstoß gegen die Kinderrechte.

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Man liest Nourig Apfelds Familiengeschichte wie einen Krimi, fassungslos, dass es so ein Leben wirklich geben kann, in Bonn, um die Ecke. Man liest, wie eine anfangs liberale Einwanderer- Familie zunehmend verroht - der Vater angestachelt von radikalen Männern in seinem Clan, die Mutter einsam, voller Angst und Scham und Sehnsucht und schließlich verloren in depressiver Gewalt.

Die Schläge der Mutter prägen Nourigs Kindheit; Kassetten, die die Verwandten besprochen haben und aus der syrischen Heimat schicken, sind der Sound dazu. Die Mutter hört sie unablässig: Ermahnungen, nicht zu scheitern im Westen, die Kinder traditionell zu erziehen. Die Mutter benutzt dafür die Faust, die flache Hand, Gegenstände. Sie schlägt zu, wenn die Töchter auf einem Schulfest eine Bratwurst mit Schweinefleisch essen. Prügelt Nourig am Tag ihrer ersten Periode der Schande wegen, bis sie vor ihr am Boden liegt. Nourig flüchtet sich in die Kultur des Landes, in dem sie lebt: Sie geht aufs Gymnasium, ins Theater, liest Böll und Hesse. Sie will deutsch sein, ihre Schwester will nur raus. Waffa klaut Geld, bleibt nachts verschwunden. Sie wütend und radikal, Nourig ihr Gegengewicht.

Sie fühlt sich deshalb schuldig am Zerfall der Familie, sie sagt: "Das war mir von klein auf antrainiert. Ich hatte immer das Gefühl, alle in der Familie sind nicht lebensfähig. Ich war der Manager, ich war verantwortlich für all ihre Probleme."

Nach dem Tod der Mutter 1992 übernimmt Kaan, so nennt Nourig ihn im Buch, das Regiment. Ein Cousin, zwei Jahre zuvor aus Syrien gekommen, gewaltbereit im Namen der Ehre, so beschreibt sie ihn. Kaan wiegelt die Familie gegen Waffa auf und bringt den Vater dazu, sie zu einer verwandten Familie in die Türkei zu bringen und dort zwangszuverheiraten; Waffa ist gerade 14. Sie läuft den Verwandten davon, kehrt zwei Jahre später auf eigene Faust und hochschwanger nach Bonn zurück. Kaan nennt sie eine Schande. Ihren Sohn gibt sie bald nach der Geburt in ein Pflegeheim und verbietet der Familie jeden Umgang mit ihm. Bald ist sie kaum mehr zu Hause, lebt im Frauenheim, bei Freunden, auf der Straße, sie geht vor die Hunde, und das letzte Mal lebend sieht Nourig sie in Bad Godesberg, auf dem Bürgersteig vor einem Kino. Noch bevor sie sie ansprechen kann, läuft die Schwester davon.

Waffas Tod ist das kürzeste Kapitel in Nourig Apfelds Buch. Sie gibt ihn zu Protokoll, erzählt das Nötige: Am 29. August 1993 weckt der Vater sie um halb sechs Uhr morgens, er sagt: Steh auf, ich brauche deine Hilfe. Sie folgt ihm ins Wohnzimmer, Waffa sitzt zusammengesunken auf dem Sofa, halb heruntergerutscht, leblos, sie hat ein Seil aus Sisal um den Hals. Kaan steht mit seinem Bruder hinter dem Sofa und hält das Seil, er drückt es dem Vater in die Hand und fordert ihn auf, es Nourig zu geben, damit sie daran zieht. "Es sollte zu meiner Abschreckung dienen, dass ich nicht aufmüpfig werde wie Waffa", sagt Nourig. "Sie wollten mich haptisch wahrnehmen lassen: Das machen wir mit dir auch, wenn du nicht gehorchst. Aber ich habe nicht gezogen, ich habe es nur in die Hand genommen, wie ferngesteuert."

Die Männer legen den toten Körper in einen Pappkarton, fahren ihn zu einer Grube im Wald auf der anderen Rheinseite. Als der Vater zurück ist, fragt sie ihn: Wie konntest du das tun? Er sagt: Es ging nicht anders, zum Glück hat sie geschlafen.

Keiner fragt nach Waffa. Auch nicht die jüngeren Geschwister, damals zehn und sieben Jahre alt. Alle in der Familie schweigen. Es ist, als hätte es Waffa nie gegeben. Den Behörden sagt der Vater, die Tochter sei ausgewandert. Wird Nourig selbst gefragt, weicht sie aus. Sie zieht zu ihrem deutschen Freund Felix, nach einer offiziellen Verlobung stimmt der Vater zu. Von dem Mord sagt sie auch ihm nichts. Dabei bleibt es. Acht Jahre lang. Sie sagt: "Ich habe nicht bewusst mit einer Lüge gelebt.

Es war für mich einfach unvorstellbar, dass meine Schwester ihr Leben lassen musste. Es war ein Trauma, ein Leben wie unter einer Käseglocke."

Sie arbeitet gegen das Erinnern, manchmal 15 Stunden am Tag. Sie jobbt im Altenheim, auf der Intensivstation, in einer gynäkologischen Klinik, im Theater, sie beginnt ein Medizinstudium, macht alles gleichzeitig. Die Arbeit verdrängt die Bilder der toten Schwester. Sie weiß, was passiert ist, aber sie sieht es nicht vor sich. "Die Erinnerungen kamen nur, wenn ich Ruhe hatte, mit unendlicher Trauer und Schuldgefühlen, ihr nicht geholfen zu haben."

"Ehrenmorde" geschehen in einer Kultur, in der die Scham innerhalb der eigenen islamischen Gemeinschaft wichtiger ist als rechtsstaatliche Gesetze. Es gibt kein individuelles Gewissen, das schwerer wiegt als diese Scham. "Das Wir steht über dem Ich, die Werte des Clans über den Menschenrechten", sagt Nourig.

So hat man diesen Ehrenmord zu verstehen und auch Nourigs Entscheidung für dieses Wort, obwohl es die Tat verklärt, weil "Ehre" nach etwas klingt, das man respektieren sollte. Nourig sagt: "Juristisch ist es Mord, da gibt es keinen kulturellen Ermessensspielraum. Aber wenn wir nur von Mord reden, übersehen wir die archaischen Strukturen, die ihn erst möglich machen" Damals gab es diese Gedanken nicht. Die Idee, zur Polizei zu gehen, ein Verbrechen anzuzeigen, einen Mord, kam ihr keinen Moment. Es hätte bedeutet, ihren Vater auszuliefern. Kaan, da war sie sicher, würde ihn zwingen, alle Schuld auf sich zu nehmen, um selbst davonzukommen.

Auch der Vater litt in den Jahren nach dem Mord; wenn sie ihn fragte, wie er Waffa hatte töten können, sagte er immer nur, er habe doch keine Wahl gehabt.

Nourig beginnt eine Psychotherapie, einmal soll sie ihr inneres Haus aus Holz- pfosten und Steinen bauen, sie baut eine Festung ohne Ein- und Ausgang und setzt sich mitten hinein. 2001, nach 15 Monaten mit der Therapeutin, schafft sie es endlich, von dem Mord zu erzählen. Die ist geschockt. "Danach bekam ich keinen Termin mehr bei ihr, sie hatte Angst, da reingezogen zu werden." Sie findet einen neuen Therapeuten. Ihm sagt sie, als zweitem Menschen überhaupt, die Wahrheit. Er versteht, dass sie traumatisiert ist, und behandelt sie kostenlos. Er hilft ihr, sich von der Familie zu lösen, das erste Mal traut sie sich zu denken: Es ist nicht meine Schuld. Sie erzählt nun endlich auch Felix davon, inzwischen ihr Ehemann.

Vielleicht hätte alles so bleiben können. Waffa vergraben, die Erinnerung in der Aufarbeitung, die Einsicht wachsend, dass es nicht zu ändern ist, Waffas Tod nicht wie ihre eigene Hilflosigkeit. Nourig will Ärztin werden. Lebt mit Felix, er ist fassungslos über den Mord und ihr langes Schweigen, will sie aber unterstützen.

Nach vorn. Aber es geht nicht. Die Geschichte will ans Licht.

Es erwischt sie einfach. Als sie sich einmal nicht unter Kontrolle hat. Juni 2004, elf Jahre nach dem Mord. Eine Nachbarin ihres Vaters ist der Auslöser, sie erzählt Nourig, Kaan tyrannisiere das Haus, er beschimpfe ihre alleinerziehende Tochter. Nourigs Wut kocht wieder hoch, sie willigt ein, die Frau zur Polizei zu begleiten, sie hofft, Kaan werde in der Folge observiert, ein Islamist in der Welt nach dem 11. September. Aber die Beamten sagen, sie bräuchten mehr Anhaltspunkte, um etwas gegen ihn zu unternehmen. Da rutscht es ihr heraus. "Ich habe gefragt: Was ist, wenn er einen Menschen umgebracht hat? Die haben nachgehakt. Und ich habe erzählt, was passiert ist. Es war mehr als genug."

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Der Moment stellt für Nourig alles auf den Kopf. "Ich wusste, ich riskiere mein Leben, weil Kaan mich hassen würde, und ich verliere meine Freiheit, wenn ich mich zum Schutz in die Fänge der Polizei begebe."

Sie sagt: Fänge der Polizei. Nicht Fänge des Verbrechens. Die Polizei ist jetzt ein mächtigerer Gegner für sie. Vor Kaan kann sich Nourig verstecken, vor der Justiz nicht. Darin liegt die eigentliche Ambivalenz ihrer Geschichte: die Frage, wie hoch der Preis sein darf, den eine Zeugin bezahlt für die rechtsstaatliche Verurteilung eines so genannten Ehr-Verbrechens.

Sie bekommt Vorladungen der Mordkommission, der Staatsanwaltschaft. Sie verweigert die Aussage, sie findet ihren Vater mit seinem ganzen Leben genug gestraft. Der Gedanke, dass er als Mörder ins Gefängnis kommt, ist ihr unerträglich. In dieser Zeit löst sich ihre Ehe auf. Nourig zieht aus, sie will ihren Mann nicht gefährden.

Die Familie schweigt Waffa tot

Die Polizei bietet ihr an, nach einer Aussage ins Zeugenschutzprogramm zu gehen: neue Identität, Umzug ins Ausland, Betreuung vor Ort, keine finanziellen Einbußen. Aber Zeugenschutz heißt auch: Vernichtung ihrer Biografie, der Abschied von allen Freunden, dem Studium. Sie würde ein gläsernes Leben führen, die Polizei hätte Zugriff auf ihre Kontodaten, Mail, Handy. "Ich habe so lange darum gerungen zu verstehen, wer ich bin jenseits der Familie, und dann sollte ich eine neue Identität verpasst kriegen, ein neues Ich. Ich wusste nicht, ob meine Seele überhaupt mitmacht."

Nourig sagt Nein. Verweigert die richterliche Vernehmung, die es für eine Anklageerhebung braucht. Die Polizei bohrt trotzdem weiter. 2005, 2006. Nourig hat Panikattacken und Herzprobleme, schläft kaum mehr. Studiert nicht mehr. Kündigt im Mai 2006 ihre Wohnung, lagert die Sachen ein. Sie denkt, die Wände einer Wohnung können ohnehin kein Schutz sein, sie konnten auch ihre Schwester nicht schützen. Gewalt passiert zu Hause. Sie ist fast erleichtert, dass alles weg ist, nur ein Koffer, ein Stapel Fotos in einem Briefumschlag in ihrem Filofax, von Freunden, den drei Katzen, die noch bei Felix sind. Sie lebt von Hartz IV, geht zeitweilig ins Ausland, jobbt in einem Tierheim, kommt zurück, wohnt bei Bekannten, Fremden, in Zimmern, Kammern, ohne Namen an der Tür.

Die Polizei macht auf eigene Faust weiter, bis sie Nourig Anfang 2007 durch zwei verdeckte Ermittler in akute Gefahr bringt: Einer erpresst den Vater anonym mit der Behauptung, er wisse von dem Mord an Waffa; weil nur Nourig die Quelle sein kann, droht Kaan in einem abgehörten Telefonat, man müsse sie "schlachten". Ein zweiter V-Mann gibt sich als Nourigs neuer Verlobter aus und erklärt dem Vater, die Polizei habe sie wegen Waffas Verschwinden kontaktiert. Ob er von dem Mord an der Schwester wisse? Ja, sagt der Vater und erzählt alles. Auch, wo die Leiche vergraben sei. Die Polizei findet sie nicht.

Nourig flieht erneut. Fährt zum Flughafen, kauft das nächstbeste Ticket. Madrid. Sie checkt ein, Boarding in drei Stunden. Sie geht auf die Toilette, hat ein Taschenmesser, das die Sicherheitsbeamten übersehen haben, versucht zu schneiden, aber sie schafft nur eine kleine Wunde.

Sie fliegt nicht. Stellt sich, lässt sich vernehmen. Der Vater und der Cousin kommen in U-Haft, der zweite tatverdächtige Cousin hat Deutschland längst verlassen. Die Polizei bringt Nourig in eine Wohnung in Augsburg, ein einziger kalter Raum, Linoleum. Ihr echter Name steht an der Tür, und es ist keine Rede mehr von neuer Identität. Sie fühlt sich betrogen. Sie hat unermessliche Angst. "Augsburg war der Tiefpunkt", sagt sie. "Ich war wie weggetreten. Ich dachte nur immer, wie soll ich existieren, was soll ich den Menschen erzählen, wer ich bin." Nach drei Wochen schreibt sie Abschiedsbriefe.

Jemand aus ihrer Familie fragt bei Felix nach einem aktuellen Foto von ihr nach. Schließlich sagt sie als Hauptzeugin vor dem Bonner Landgericht aus, per Video, maskiert mit Perücke und Sonnenbrille. Sie will mit der Aussage ihrem Vater helfen,der immer noch alle Schuld auf sich nimmt, doch vergeblich. Kaan wird im April 2008 aus Mangel an Beweisen freigesprochen; der Vater, inzwischen 66, bekommt acht Jahre Haft wegen Totschlags. Die Leiche der Schwester wird nie gefunden.

Zeitweilig bekommt Nourig Personenschutz, meistens aber versteckt sie sich auf eigene Faust. Fast ein ganzes weiteres Jahr geht das so. Oft weiß sie abends nicht, wo sie bleiben soll, aber es klappt immer, etwas findet sich, manchmal für ein paar Tage, manchmal für zwei, drei Monate. Mal in einem kleinen Dorf hinterm Deich, mal in einer WG. Sie liest viel. Psychologie-Fachbücher. Sie telefoniert häufig mit ihrem Therapeuten. Sie merkt, etwas verändert sich. "Mein Therapeut hat nur immer die gleichen Fragen gestellt: ,Was kannst du selbst tun, was ist deine Aufgabe, was steckt dahinter, frag dich das.‘ So", sagt sie, "bin ich geheilt worden."

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Es war Weiberfastnacht, das weiß sie noch, Anfang 2009, es war an derselben Stelle, Bad Godesberg, vor dem Kino, an dem sie ihre Schwester das letzte Mal gesehen hat. Sie fuhr mit dem Auto die Straße entlang, und auf einmal musste sie weinen. X-mal ist sie dort vorbeigekommen, aber diesmal kamen die Tränen einfach. Sie hat geweint und gemerkt, die Angst geht weg, sie löst sich auf. Sie sagt: "Anders kann ich es nicht erklären." Wenn es keinen Schutz mehr gibt, bleibt einem wohl nur noch, mutig zu sein. Sie hat jetzt wieder eine Wohnung gemietet, unter ihrem Namen, aber noch ohne Schild an der Tür. Sie hat sich scheiden lassen, aber Felix ist immer noch ein guter Freund. Sie studiert Psychologie. Sie will danach für Behörden und Ämter arbeiten und zu Integrationsthemen beraten.

Gibt es für so was Stellen? "Noch nicht, aber die könnte man ja einrichten." Sie hat ihrem Vater einen Brief geschrieben, vor ein paar Wochen. "Ich hatte vorher nie das Gefühl, dass es richtig wäre, mich zu melden, jetzt schon." Wird er antworten? "Er ist noch nicht so weit, glaube ich. Wenn er das zulässt, würde ich ihn auch besuchen, klären, wo stehen wir miteinander. Ich schicke ihm auch mein Buch."

Wie sieht sie ihn heute? "Mein Vater war für mich vor dem Mord der, der sich für uns aufgeopfert hat, danach, der gebrochen durchs Leben ging. Ich glaube, man erntet, was man sät. Das hat er: sein totales persönliches Unglück. Die Tat ist nicht zu entschuldigen. Aber ich bin mit ihm schon in Frieden."

Das Urteil: Haft für den Vater

Kaan ist immer noch da, lebt in Bonn, womöglich lauernd, in der Nähe ihres alten Zuhauses, und erzieht Nourigs drei jüngste Halbgeschwister. Fürchtet sie ihn? "Der Schritt in die Öffentlichkeit wird Folgen haben. Vielleicht muss ich wieder mit Personenschutz leben. Es kann sein, dass Kaan noch Rachegelüste hat. Aber ich rufe auch die Leute aus der muslimischen Gemeinde auf den Plan, die sehr archaisch ticken. Die sich in ihrer Ehre angegriffen fühlen. Ich müsste Angst haben, aber ich habe keine." Man sitzt da, am Küchentisch, mit dieser Geschichte. Das Kaputte ist zusammengekehrt, und über den Löchern und Rissen liegt neue Erde, dass die Wege wieder betretbar sind, die inneren Pfade.

Im Mai ist sie 38 geworden. Sie ist Stier. Sie hat ein ehemaliges Striplokal gemietet bei ihr um die Ecke, mit Whirlpools und Rotlicht. Sie hat sich vor die Tür gestellt und alle begrüßt, alle Freunde, Freunde von Freunden, es war eine offene Einladung, es sollte sich herumsprechen, dass sie feiert. Das Motto hieß: Nourigs drittes Leben.

"Ehrenmorde" - immer mehr werden angezeigt

Jedes Jahr werden in Deutschland knapp ein dutzend Fälle familiärer Morde öffentlich, bei denen Ehrvorstellungen eine Rolle spielen. Die wahren Zahlen sind wohl sehr viel höher: Ehrverbrechen werden häufig als Unfälle oder Suizid getarnt oder nach Verschleppungen im Ausland begangen. Weltweit, schätzt die Uno, geschehen jährlich rund 5000 "Ehrenmorde", jeder fünfte davon in der Türkei. Immer mehr dieser Fälle werden bekannt: In den vergangenen drei Jahren sind die in Deutschland angezeigten Taten um das Zehnfache gestiegen. +++ Schlagzeilen machte der Prozess um Hatun Sürücü, 23, sie wurde 2005 in Berlin auf offener Straße erschossen. Ihr Bruder bekam neun Jahre und drei Monate, zwei weitere Brüder wurden freigesprochen. 2007 hob der Bundesgerichtshof die Freisprüche auf. Es erging Haftbefehl, doch die Brüder leben nun in der Türkei. +++ Für den Mord an der 16-jährigen Deutsch-Afghanin Morsal bekam ihr Bruder eine lebenslange Haftstrafe wegen heimtückischen Mordes. Er hatte sie im Mai 2008 aus Wut über ihren westlichen Lebensstil auf einem Parkplatz in Hamburg mit 23 Messerstichen getötet. +++ Die Kurdin Gülsüm S., 20, wurde im März 2009 in der Nähe von Kleve ermordet, weil sie eine Abtreibung hatte vornehmen lassen. Ihr Vater Yusuf S. bekam lebenslang, als Mittäter wurden Gülsüms Drillingsbruder und dessen Freund zu langen Haftstrafen verurteilt. +++ Am 24. Juni 2009 tötete Mehmet Ö. in Schweinfurt seine 15-jährige Tochter Büsra mit 68 Messerstichen. Auch er bekam lebenslange Haft.

Text: Meike Dinklage Fotos: Klaus Lange Ein Artikel aus BRIGITTE 20/10

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