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Die Girls von Riad

So heißt heißt der Roman, der in Saudi-Arabien alle Tabus gebrochen hat. Weil Rajaa Alsanea, 25, so intensiv von den Wünschen junger Frauen erzählt, als ginge es um ihr Leben. BRIGITTE-Mitarbeiterin Madlen Ottenschläger hat die Autorin getroffen.

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Auf dem hölzernen Couchtisch liegt ein Buch mit der Sprengkraft einer Bombe. 300 Seiten dick, der Einband aus einfacher Pappe. In arabischer Schrift steht darauf: "Die Girls von Riad". Auf dem Sofa sitzt Rajaa Alsanea, reckt das Kinn und sagt: "Irgendjemand musste doch den Anfang machen." Also hat sie den Anfang gemacht. Hat ein Buch geschrieben, das verteufelt oder geliebt wird in ihrer Heimat, schwarz oder weiß, ein Dazwischen gibt es nicht. Dabei erzählt es nur die Geschichte von vier Freundinnen aus Riad, von ihren Träumen und Hoffnungen, ihrem Leben und Lieben.

Für Saudi-Arabien aber ist das unerhört. Vergebens suchte man bislang in dem Land, das sich abschirmt vom Rest der Welt wie kaum ein zweites, nach Geschichten, die vom echten Leben erzählen. Und dann ist es eine Frau, ausgerechnet, die den Blick durch das Schlüsselloch freigibt!

Wir sitzen in Rajaas Wohnzimmer. Die Wände sind mintgrün, afrikanische Masken blicken auf eine braune Ledercouch, über dem Fernseher hängen Fotos. Rajaa ist jung, 25 erst, und sie ist eine Schönheit: braune Locken, braune Augen, perfekte Figur. Sie trägt Jeans und Pulli und die Haare offen. In ihrer Wohnung in Chicago, beim Gespräch mit einer Frau, braucht sie kein Kopftuch, wie sie es sonst in der Öffentlichkeit trägt. Seit fast einem Jahr lebt Rajaa in den USA, sie ist dem Bruder und der Schwester in die Stadt am Lake Michigan gefolgt, macht dort wie die beiden ihren Master in Zahnmedizin, in Endodontologie. Im Juni 2008 will sie ihre Abschlussprüfung bestehen - und dann heimkehren nach Saudi-Arabien.

Ihre Stimme wird weich, wenn sie von ihrer Heimat spricht, von den Freundinnen dort, der Mutter. "Ich liebe Saudi-Arabien", sagt sie. "Ich vermisse es unendlich, und ich würde nie etwas tun, das meinem Land schadet." Aber ist das nicht ein Widerspruch? Greift sie in ihrem Buch nicht das Land an, in dem sie aufgewachsen ist? Schließlich schreibt sie darüber, wie Frauen an arrangierten Ehen zerbrechen. Sie schreibt über Homosexualität, ein absolutes Tabu in Saudi-Arabien und der ganzen islamischen Welt. Sie schreibt über die Freundschaft einer Sunnitin mit einem Schiiten, die im Gefängnis endet. Und sie schreibt über geschiedene Frauen, die von der Gesellschaft geächtet und ausgegrenzt werden.

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Rajaa schließt kurz die Augen, atmet tief ein. Zu oft schon hat sie sich verteidigen müssen. Dann sagt sie: "Ich sage nicht, dass alle Saudis so sind, wie ich es in meinem Buch beschreibe. Und ich sage nicht, dass es richtig ist, was die Personen in meinem Buch tun. Ich sage nur, dass es diese Dinge in Saudi-Arabien gibt. Ich bin Schriftstellerin, keine Richterin. Das Urteil müssen sich die Leser schon selbst bilden."

Und das machen sie. Da sind die Extremisten, streng religiöse Moslems, die in dem Buch eine Beleidigung für ihren Glauben sehen. Rajaa hat E-Mails bekommen, in denen ihr der Tod gewünscht wird: "Wir beten dafür, dass du stirbst. Wir beten dafür, dass du die Menschen verlierst, die du liebst. Wir beten dafür, dass Gott dich der gerechten Strafe zuführt." Ins Gesicht gesagt aber hat ihr das keiner. Dafür kreischen die Menschen auf der Straße, wenn sie Rajaa sehen. Die Frauen umarmen sie, eine körperliche Nähe, die für saudische Männer undenkbar ist; einige schütteln ihr immerhin die Hand. Frauen und Männer fotografieren und feiern sie: Rajaa, der Star, Rajaa, die neue Stimme Arabiens.

Wie ein Lauffeuer hat sich "Die Girls von Riad" in Saudi-Arabien verbreitet und von dort in der arabischen Welt. Ein Bestseller ist der Roman, der von den Freundinnen Kamra, Lamis, Michelle und Sadim erzählt, mehrere hunderttausendmal verkauft - offiziell. Das ist Wahnsinn für eine Region, in der schon als literarischer Star gilt, wer mehr als 3000 Exemplare absetzt. Die inoffiziellen Zahlen gehen in die Millionen. Denn Rajaas Buch, im September 2005 im Libanon veröffentlicht, um der Zensur in der Heimat zu entgehen, und bis vor kurzem in Saudi-Arabien nicht erhältlich, war eine heiß gehandelte Schwarzmarktware. Das Zehnfache des Ladenpreises bezahlten Leser für eine Kopie, 100 Dollar für eine Sammlung loser Blätter. Heute kann der Roman auch in Saudi- Arabien gekauft werden, das Informationsministerium hat nach langer Prüfung sein Okay gegeben - eigentlich. Die Buchhändler zucken häufig nur die Schultern, zu gefährlich ist ihnen die Ware.

"Natürlich bin ich stolz. Es ist ein Traum, ein Wunder, ein Märchen", sagt Rajaa. Mit diesem Erfolg hat sie nicht gerechnet. "Ich habe so viel Unterstützung erfahren, so viel Zuspruch bekommen. Das macht mich unendlich glücklich - und stolz auf mein Land. Es zeigt doch, dass Saudi-Arabien in Bewegung ist."

Manche sagen, dass Rajaas Roman das Tor zur Freiheit geöffnet hat. Weil es in Saudi-Arabien plötzlich möglich ist, über Dinge zu reden, die bislang als unerhört galten. Rajaa erzählt von dem Brief eines Mannes, der "Die Girls von Riad" von seiner Tochter bekam, einer Geschiedenen. Als der Vater das Schicksal von Kamra las, als er las, wie sich die Romanfigur fühlt, die vom Ehemann verstoßen und von den Eltern eingesperrt wird - erst da hat er verstanden. Er schreibt: "Ich habe mit meiner Tochter nie über ihre Ehe gesprochen. Ich habe mit meiner Tochter nie darüber gesprochen, wie sie sich fühlt, welche Träume sie hat vom Leben. Nachdem ich Dein Buch gelesen habe, haben wir zum ersten Mal wirklich geredet. Ich werde dafür sorgen, dass sie nicht Kamras Schicksal teilt."

Rajaa steht auf, durchquert den Raum, bleibt vor einem der Fotos stehen, die an der Wand über dem Fernseher hängen. "Das ist die Verlobung meines Bruders", sagt sie. Das Bild zeigt ein glückliches Paar, eine strahlende Mashael, einen lachenden Jamal. In ihrem Buch schafft es Lamis als einzige der vier Freundinnen, den Mann zu heiraten, den sie liebt.

Rajaa verschwindet in der Küche. "Ich bin ein bisschen nervös", sagt sie, als sie zurückkommt, in der Hand eine silberne Kanne. Es ist das erste Mal, dass sie Kaffee gekocht hat, ganz allein. Sonst macht das Mashael, die Frau des Bruders, oder Rasha, die Schwester. Und daheim in Saudi-Arabien, in Riad, nun ja, da gibt es die Mutter, es gibt eine Köchin und noch ein paar andere Hausangestellte. Rajaa stammt aus der saudischen Oberschicht, finanzielle Sorgen hat Familie Alsanea nicht. Sie beugt sich nach vorn und schenkt gelben Kaffee in zwei winzige Becher. Es duftet nach Kardamom. Der Kaffee ist heiß, süß, und schmeckt wie Kräutertee.

Rajaas Augen weichen dem Blick des Gegenübers nicht aus, sie halten ihn, erwidern ihn. Ihre Stimme ist kräftig, sie wirkt stark, selbstbewusst. Und doch fragt man sich, woher sie den Mut hatte, ein solches Buch zu schreiben. Sie lacht. Dann lehnt sie sich zurück und beginnt zu erzählen. Dass sie das Nesthäkchen sei, vier Brüder habe und eine Schwester. Geboren ist sie in Kuwait, der Vater arbeitet dort als Journalist. Er merkt schnell, dass seine Jüngste die arabische Sprache liebt, schon mit fünf liest sie dem Vater Zeitungsartikel vor, mit sechs schreibt sie kleine Geschichten. Der Vater prophezeit: Du wirst einmal Schriftstellerin. Rajaa ist acht, als er an einem Herzinfarkt stirbt und die Familie zurückkehrt nach Saudi-Arabien. "Ich musste stark sein, stark werden, um diesen Schmerz auszuhalten", sagt Rajaa. "Vielleicht bin ich deshalb mutig: Weil das Schlimmste, was mir passieren konnte, schon passiert ist." Sie schweigt, einen Moment nur, dann ist da wieder dieses Lächeln, das ihr Gesicht leuchten lässt. "Und sagt man nicht auch, dass die Jüngsten die Dickköpfigsten sind?"

Eine Tür knallt, lautes Gepolter, dann steht eine Frau im Raum, das weiße Kopftuch akkurat gebunden, unterm Arm eine Aktentasche. "Hallo, lasst euch nicht stören, ich muss los, bis dann", ruft sie, packt ihren Mantel und ist verschwunden.

"Das war meine Schwester Rasha", sagt Rajaa. "Sie ist mal wieder spät dran." Dann gießt sie Kaffee nach, greift nach dem silbernen Schälchen mit Datteln. "Die müssen Sie probieren, die sind echt lecker", sagt sie und beißt ein Stück ab. Sie erzählt, dass es eigentlich ihre Schwester war, die ihr den nötigen Mut gegeben hat. "Ich wusste schon als Kind, dass ich eines Tages einen Roman schreiben werde. Doch erst, als ich an die Universität kam, als ich die private Schule verlassen und zum ersten Mal in meinem Leben an einer öffentlichen Bildungseinrichtung unterrichtet wurde, erst da spürte ich, worüber ich schreiben will." An der Universität trifft das Mädchen aus der Oberschicht Mädchen, die es sich nicht leisten können, jeden Sommer Urlaub in den Staaten zu machen. An der Universität trifft das sunnitische Mädchen schiitische Mädchen, eine religiöse Minderheit in Saudi-Arabien, entrechtet. An der Universität trifft das Mädchen aus der Stadt Mädchen vom Dorf. "Erst da habe ich gemerkt, wie unterschiedlich die Mädchen in Saudi-Arabien sind", sagt sie. Und wie streng voneinander abgeschirmt sie aufwachsen. Rajaa merkt, dass es in dem Königreich nicht nur eine Trennung der Geschlechter gibt, sondern auch eine der Klassen, der Religionen, der Weltsichten. Sie sagt: "Da wusste ich: Ich muss über uns schreiben, über die Mädchen aus Saudi-Arabien."

Rajaa wird zum Schwamm. Sie freundet sich mit Schiitinnen an und spricht mit denen, die nicht privilegiert sind, die keine Designerklamotten tragen unter der Abaya, einem mantelartigen Übergewand, das für Frauen in Saudi- Arabien in der Öffentlichkeit vorgeschrieben ist. Begierig saugt sie jede Information auf, lauscht jeder Geschichte. Da ist das Mädchen, das Abend für Abend mit ihrem Freund chattet. Ob er der ist, der er vorgibt zu sein? Sie hat ihn nie gesehen, die Geschlechter sind in Saudi-Arabien separiert. Da ist die Frau, die nach der offiziellen Trauung mit ihrem Mann schläft und nicht bis zur Hochzeitszeremonie wartet. Er lässt sich scheiden, sie ist ihm zu frivol. Da sind die Mädchen, die sich als Männer verkleiden, sich ins Auto setzten und losfahren, Spaß haben, einfach so - in Saudi-Arabien dürfen Frauen nicht Auto fahren. Es sind Geschichten von Liebe und Leid. Es sind traurige Geschichten, aber auch glückliche, lustige, verrückte. Rajaa schreibt mit, spinnt die Geschichten weiter, denkt sich neue aus, in Gedanken und auf gelben Post-its, die bald in ihrem ganzen Zimmer kleben: am Schrank, über dem Schreibtisch.

Sie ist 18, als sie den ersten Satz in den Laptop tippt. Sie schreibt ein Kapitel, zwei, drei. Dann geht nichts mehr. Sie will hinschmeißen, da klingelt ihr Handy. Es ist ihre Schwester Rasha. Sie sagt: "Was sind das für Texte auf meinem Laptop?" Rajaa hat in den Ferien in den USA den Laptop der Schwester benutzt. Rasha brüllt ins Telefon: "Das ist gut, das ist richtig gut! Du musst weitermachen!" Sie bedrängt die kleine Schwester, lässt keine Ausrede gelten: Zu viel Arbeit an der Uni? Kein Problem, ich helfe dir. Keine Idee, wie die Geschichte weitergehen soll? Uns fällt schon was ein. Also schreibt Rajaa weiter. Das aber weiß nur ihre Schwester Rasha.

Warum hat sie niemandem von dem Buch erzählt? "Weil ich nicht wusste, ob ich es wirklich beenden kann", sagt sie. "Und weil ich nicht wusste, ob es gut genug wird." Sie greift nach dem Buch, streicht fast zärtlich über den Einband. Dann sagt sie: "Es sollte eine Bombe sein. Meine Familie, meine Freunde, alle sollten sagen: Das ist Wahnsinn! Wann hast du das gemacht? Ich wollte sie umhauen."

Das ist ihr gelungen. Doch lange hält die Euphorie nicht an, es gibt viel zu bereden bei den Alsaneas. Die Brüder, die Mutter, Rasha und Rajaa treffen sich. Ihr Bruder Ahmad fragt: "Willst du das Risiko einer Veröffentlichung wirklich eingehen? Du bist noch nicht verheiratet - und du weißt: Unsere Gesellschaft vergisst nichts. Und sie verzeiht nichts." Rajaa will. "Wir haben Gesetze in Saudi-Arabien", sagt sie. Für eine Buchveröffentlichung im Libanon wird man nicht ins Gefängnis gesteckt."

Rajaas Blick wandert durch das Wohnzimmer, bleibt hängen beim Foto von Jamal und Mashael. "Ganz ehrlich: Jetzt ist es für mich doch viel einfacher, den richtigen Mann zu finden!" Sie möchte einen, der stolz ist auf das, was sie schreibt. Der sie unterstützt, ermutigt und anspornt. "Nach der Veröffentlichung habe ich übrigens eine Menge Heiratsanträge bekommen", sagt sie. Der Richtige aber war nicht dabei.

Rajaa schaut auf die Uhr, schnell muss es jetzt gehen, an der Uni wartet ein Patient. Sie bindet ihr Kopftuch um, packt Bücher in den Rucksack, den Laptop in die Tasche. Knapp eine Stunde Pause hat sie heute, trotzdem muss der Laptop mit. Im Sommer erscheint ihr Buch bei Penguin US, Rajaa bearbeitet, redigiert und lektoriert die englische Übersetzung. "Wenn ich Deutsch könnte, hätte ich es da auch gemacht", sagt sie. Weil sie Angst hat, dass die Bedeutung ihrer Sätze in der fremden Sprache verloren geht. Weil sie Angst hat, dass ihr Buch nicht mehr ihr Buch ist. Rajaa, die Perfektionistin. Und Rajaa, die Arbeitswütige. Kürzer treten, das Studium abbrechen, nur noch schreiben - das will sie nicht. "Ich liebe das Schreiben, aber ich brauche auch einen Job, der mich erdet", sagt sie. Als aus Rajaa, der Studentin, Rajaa, die Bestseller-Autorin, wurde und ihr Foto - mit Kopftuch, sanft in die Kamera lächelnd - ein Jahr durch die saudischen Medien ging, als sie an manchen Tagen an die tausend E-Mails bekam und Journalisten anriefen aus England und den Emiraten, aus Ägypten, den USA und Marokko, da hat sie fast die Bodenhaftung verloren. Es gab Tage, da ging sie nur noch mit Sonnenbrille aus dem Haus - und wurde trotzdem erkannt. Also zog sie den Neqab über, den Gesichtsschleier, der nur die Augen frei lässt und den Rajaa zuvor noch nie getragen hatte.

Die Abreise in die USA ist da wie eine Befreiung, endlich darf die Bestseller-Autorin wieder Studentin sein. Überhaupt sieht sie das Leben heute sehr pragmatisch: "Das eine Buch verkauft sich, das andere nicht." Dann sagt sie: "Meine Brüder und meine Schwester sind Ärzte, sie verdienen gut. Dem will ich nicht nachstehen." Rajaa will ihr eigenes Geld verdienen, Karriere machen - und überhaupt: Erlebt man als Ärztin nicht die spannendsten Geschichten? Sie hat schon eine Idee für ihr nächstes Buch. Und gelbe Post-its.

Auf der nächsten Seite lesen Sie einen Auszug aus dem Roman von Rajaa Alsanea.

Saudi-Arabien und die Frauenrechte

Der Alltag der rund 23 Millionen Einwohner von Saudi-Arabien ist strikt nach Geschlechtern getrennt.

Banken haben eigene Frauenfilialen, Professoren unterrichten ihre Studentinnen per Video, und in der Öffentlichkeit dürfen Männer und Frauen, die nicht miteinander verwandt sind, nicht miteinander sprechen. Unter der Regentschaft von König Abdullah hat sich die absolute Monarchie zwar leicht geöffnet - so fanden im Jahr 2005 erstmals seit der Staatsgründung 1932 Kommunalwahlen statt -, doch die Frauen haben weiterhin kaum Rechte: Sie dürfen nicht wählen, nicht Auto fahren, nicht allein in einem Restaurant essen und nur mit Erlaubnis des Vaters oder Ehemanns verreisen oder ein Krankenhaus aufsuchen. Und das, obwohl sie hoch gebildet sind; es gibt inzwischen mehr Studentinnen als Studenten. Einen Job aber haben nur etwa fünf Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter.

Auszug aus dem Roman

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Hier lesen Sie den Anfang von Rajaa Alsaneas Roman "Die Girls von Riad". Ü: Dr. Doris Kilias, 350 S. 19,90 Euro, Pendo. Das Buch erscheint am 10. Mai auf Deutsch

An: seerehwenfadha7et@yahoogroups.com Von: "seerehwenfadha7et" Datum: 13.2.2004 Betreff: Ich werde über meine Freundinnen schreiben

"Gott verändert nicht sein Verhalten zu seinem Volk, ehe es nicht seiner Seelen Gedanken verändert." Sure »Der Donner«, Vers 11

Meine Damen und Herren, liebe Altersgenossinnen,

ihr habt euch auf eine Verabredung eingelassen, bei der es um Skandalöses in der Jugendszene geht. Eure Gesprächspartnerin wird euch in eine Welt führen, die euch sehr viel näher ist, als ihr denkt. Es ist eine Wirklichkeit, in der wir leben und auch wieder nicht leben. Wir übernehmen das vom Glauben, was uns passt, der Rest interessiert uns nicht.

Ich schreibe für jeden, der älter als achtzehn Jahre, in manchen Ländern auch älter als einundzwanzig ist, denn nur bei uns beginnt ab dem sechsten Jahr (und damit meine ich nicht sechzehn Jahre) für Jungen und Mädchen die Zeit der Verzweiflung. Ich schreibe für jeden, der genügend Mut hat, im Internet die nackte Wahrheit zu lesen, der die erforderliche Ausdauer und die nötige Geduld aufbringt, mich bei diesem verrückten Experiment zu begleiten. Ich schreibe für jeden, der die altmodischen Liebesgeschichten satt hat, der nicht mehr daran glaubt, dass das Gute weiß und das Böse schwarz und ein mal eins eins ist. Der den Glauben daran verloren hat, dass Captain Madjid mit zwei Toren den Ausgleich schafft und in der letzten Minute noch das Tor zum Sieg schießt. Ich schreibe für alle, die unzufrieden, widerspenstig, wütend, zornig sind. Für jeden, der meint, dass der Sonnabend und der Sonntag schreckliche Tage sind, aber unsere Verzweiflung reicht viel weiter. Für euch schreibe ich meine Briefe, und vielleicht schlagen daraus Funken, und die Veränderung beginnt.

Dieser Abend gehört mir, und die Helden der Geschichte seid ihr, sie sind "in euch und von euch". Aus der Wüste kommen wir, und in die Wüste kehren wir zurück. Und so wie unser Nedjd das Gute und das Böse sprießen lässt, gibt es unter den Heldinnen meiner Geschichte Gute und Böse, ja, manchmal findet sich beides in einer Person. "Seid nachgiebig bei dem, was euch entgegentritt." Weil ich beschlossen habe, einfach draufloszuschreiben, also ohne mich mit meinen Freundinnen abzusprechen, habe ich es vorgezogen, zwar wenig an den Ereignissen, aber viel bei den Namen zu verändern. Übrigens leben mittlerweile alle meine Freundinnen unter dem Schutz eines "Mannes" oder eines "Bewachers" oder eines "bewachenden Mannes" oder wurden anderweitig aus dem Verkehr gezogen. Sind also Brot und Salz auch heilig, mindert das weder die Wahrhaftigkeit des Erzählten noch lindert es den brennenden Schmerz der Wirklichkeit. Was mich betrifft, so habe ich nichts zu verlieren, oder um es mit den Worten von Nikos Kazantzakis zu sagen: "Ich erwarte nichts, ich fürchte nichts, ich erhoffe nichts." Aber trotz allem, das ihr hier lesen werdet, nimmt das Leben seinen Lauf. Ich denke nicht, dass ein paar Briefe es daran hindern können.

Ich werde über meine Freundinnen schreiben, denn in jeder Geschichte von ihnen finde ich mich selbst, sehe ich eine Tragödie, die meiner gleicht. Ich will über meine Freundinnen schreiben, über das Gefängnis, das das Leben aus den Gefangenen saugt, über die Zeit, die die Zeitungsspalten verschlingen, über Türen, die nicht geöffnet werden, über Wünsche, die, kaum geboren, erstickt werden, über die große Gefängniszelle, über ihre schwarzen Mauern, über tausende und abertausende Märtyrerinnen, die namenlos begraben werden, im Grab der Traditionen. Meine Freundinnen, in Baumwolle eingewickelte Puppen, aufbewahrt in einem verschlossenen Museum, Geld, das die Geschichte als Scheck bewahrt, das nicht verschenkt, nicht ausgegeben wird, Schwärme von Fischen, die in ihren Becken ersticken, oder in Kristallgläsern, deren Kobaltblau dahin ist. Ohne Furcht werde ich über meine Freundinnen schreiben, über die blutigen Ketten an den Füßen der Schönen, über das Irrereden, den Brechreiz, die Nächte flehentlichen Bittens, über die Sehnsüchte, die in Kissen begraben werden, über das Kreisen im Nichts, über den Tod in Raten. Meine Freundinnen, Pfänder, die auf dem Markt des Aberglaubens gekauft und verkauft werden, Gefangene im Harem des Orients, Tote, die nicht gestorben sind, die leben, die sterben, die wahrgenommen werden wie der Sprung im Flaschenbauch. Meine Freundinnen, Vögel, die stimmlos in ihren Höhlen sterben.

Wahr hast du gesprochen, du mein Nizar Qabbani, Gott erbarme sich deiner. "May you rest in peace." Zu Recht trägst du den Namen "Dichter der Frauen". "Und wem es nicht gefällt, der soll seinen Durst im Meer löschen." Denn in der Liebe gibt es kein vor und kein nach dir, wie es in einem berühmten Lied heißt. Selbst wenn die Gnade deiner Verbundenheit mit dem F der Frauen nicht ein genialer Impuls deiner männlichen Chromosomen gewesen ist, sondern dem Selbstmord deiner Schwester geschuldet ist, die sich wegen einer unglücklichen Liebe umgebracht hat - "Wer sich der Liebe unterwirft, den macht sie kaputt" - so kann ich nur sagen, welch ein Glück, um die selige Balkis zu wissen, was für ein "Affenglück", nach dir zu leben, aber auch was für ein Unglück. Ich glaube, der nedjdische Ausdruck "Affenglück" bezieht sich auf den Affen, weil der so viel springt. Er gleicht dem Glück, weil er mal stehen bleibt, mal zu Boden geht. Manche meinen, dass die Bezeichnung falsch ist, weil das nichts mit Affen zu tun hat, sondern mit Zecken. Leider wird eine von uns Frauen ihren Nizar erst finden, wenn sie sich von einer seiner Schwestern "befreit" und sich die romantische Liebe aus einem Schwarz- Weiß-Film in eine Liebe im Gefängnis verwandelt. Ach, mein Herz, sei nicht traurig!

Ich habe mir das Haar zerzaust, die Lippen mit grellem Rot beschmiert, neben mir steht ein Teller mit Kartoffelchips, die mit Zitrone und Pfeffer gewürzt sind. Alles ist bereit für den ersten Skandal.

Text: Madlen Ottenschläger Fotos: Katja Heinemann BRIGITTE Heft 10/2007

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