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Die 24-Stunden-Kita

Seit 2003 bietet der Verein "Schnatterenten" aus Schwedt eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung an. Mit Erfolg: Die Eltern sind begeistert, die Kinder zufrieden, die Wartelisten lang. Wir haben mit der Leiterin Marlies Helsing, 49, über das ungewöhnliche Konzept gesprochen.

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Brigitte.de: Wie entstand die Idee, eine 24-Stunden-Kita zu gründen?

Marlies Helsing: Die Idee kam mir vor fünf Jahren. Damals hatte ich gerade meinen Job als Erzieherin verloren und wurde oft von Eltern angesprochen, die im Schichtdienst arbeiten und mich fragten, ob ich ihre Kinder nicht privat betreuen könnte. Ich sah also, dass es ein großes Bedürfnis nach flexibleren Kindergärten gab. Während einer Weiterbildung habe ich mich dann intensiver mit dem Thema Schichtbetreuung befasst. Danach begann ich, mein Konzept gemeinsam mit zwei weiteren Erzieherinnen in die Tat umzusetzen.

Brigitte.de: Wie sieht dieses Konzept genau aus?

Marlies Helsing: Unser Ziel war es, einen Kindergarten zu schaffen, der sich vollkommen nach den Arbeitszeiten der Eltern richtet und nicht umgekehrt. Wir haben rund um die Uhr an sieben Tagen geöffnet und bieten den Eltern an, ihre Kinder jederzeit abzugeben und abzuholen. In Ausnahmefällen kommt eine Mitarbeiterin auch zu den Kindern nach Hause oder nimmt ein Kind mit in die eigene Familie, etwa, wenn die Eltern an Feiertagen arbeiten müssen.

Brigitte.de: Ist die Gefahr nicht groß, dass manche Kinder zu Dauergästen werden?

Marlies Helsing: Nein, wir achten darauf, dass die Kinder, die über Nacht bei uns sind, zwischendurch mindestens für mehrere Stunden nach Hause gehen. Von den 24 Kindern, die bei uns angemeldet sind, sind auch längst nicht alle in der Schichtbetreuung. Zurzeit haben wir drei bis vier Kinder, die ab und zu bei uns übernachten. Aber es ist für die Eltern einfach sehr beruhigend zu wissen, dass für die Kinder in jedem Fall gesorgt ist.

Brigitte.de: Wie alt sind Ihre Schützlinge?

Marlies Helsing: Unser jüngstes Kind in der Kita ist ein halbes Jahr alt, allerdings bleibt das noch nicht über Nacht. Wir haben aber durchaus Kinder unter drei Jahren, die bei uns schlafen. Das entscheiden wir individuell mit den Eltern zusammen.

Brigitte.de: Wie kommt das Angebot bei den Eltern an?

Marlies Helsing: "Wie kannst du nur dein Kind über Nacht weggeben?" Solche Sätze bekamen die Eltern, die als erste ihr Kind für die Schichtbetreuung anmeldeten, vielfach zu hören. Heute sind es genau diese Kritiker, die bei mir auf der Warteliste stehen. Denn inzwischen haben sie bei den anderen Eltern gesehen, wie gut sich unsere Kita auf das Familienleben auswirkt. Das Interesse an der 24-Stunden-Betreuung ist enorm gestiegen.

Brigitte.de: Und wie kommen die Kinder damit zurecht, abends nicht nach Hause zu dürfen? Fließen da keine Tränen?

Marlies Helsing: Die Kinder gewöhnen sich sehr schnell daran. Im Prinzip ist der Ablauf bei uns ja genauso wie bei ihnen zu Hause: Es gibt Abendbrot, wir schauen das 'Sandmännchen', baden die Kinder, lesen eine Geschichte vor - so entsteht eine sehr gemütliche, vertraute Atmosphäre. Auch wir Erzieher genießen das, obwohl wir nachts arbeiten müssen. Wenn man dann so sieht, wie die Kinder sich einkuscheln und einschlafen - das macht richtig Spaß.

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Brigitte.de: Wie können Sie ein solches Angebot finanzieren?

Marlies Helsing: Reich werden wir natürlich nicht mit unserer Kita, da die Schichtbetreuung nicht vom Staat gefördert wird. Dieses Angebot müssen wir allein über die Vereinsbeiträge der Eltern finanzieren, die für die Nachtbetreuung einen Zuschlag zwischen 20 und 40 Euro im Monat zahlen. Mittlerweile schreiben wir schwarze Zahlen, allerdings wäre das ohne die unbezahlten Überstunden der Erzieherinnen nicht möglich. Darum versuchen wir nun, Unternehmen zu gewinnen, die unsere Kita finanziell unterstützen. Schließlich profitieren die Betriebe indirekt auch davon, wenn die Kinder ihrer Schichtarbeiter gut versorgt sind. Bisher haben wir aber leider nur Absagen bekommen.

Brigitte.de: Meinen Sie, dass sich Ihr Modell in ganz Deutschland durchsetzen könnte?

Marlies Helsing: Auf jeden Fall. Seit in den Medien über uns berichtet wurde, bekomme ich unzählige E-Mails von Kita-Leiterinnen, Erziehern und Eltern aus anderen deutschen Städten, die von dem Konzept begeistert sind und selbst eine solche Kita aufbauen wollen. Sogar aus Hawaii hatte ich schon Anfragen. Und immer wieder wundern sich die Leute, dass nicht schon viel früher jemand auf die Idee gekommen ist. Denn Schichtdienst gibt es ja überall.

Brigitte.de: Die frühkindliche Kita-Betreuung ist in der Politik zurzeit ein großes Thema - ist das nicht eine Chance für Sie, Unterstützung von staatlicher Seite zu bekommen?

Marlies Helsing: Wir haben unser Konzept natürlich auch Ursula von der Leyen und dem brandenburgischen Ministerium vorgestellt. Aber da es sich um ein freiwilliges Zusatzangebot handelt, und nicht um eine gesetzliche Leistung, haben wir leider keine zusätzliche Förderung bekommen. Auf europäischer Ebene ist das Interesse schon größer: Wir wurden gerade von der Sozialdemokratischen Partei Europas zu einer Konferenz im Mai nach Brüssel eingeladen. Bei diesem Treffen soll diskutiert werden, wie die 2002 von der EU beschlossenen Ziele für eine bessere Kinderbetreuung umgesetzt werden können. Und unsere Kita wurde als ein beispielhaftes Projekt auserwählt. Darauf sind wir sehr stolz.

Brigitte.de: Mal angenommen, Sie wären Bundesfamilienministerin - was würden Sie an der Kinderbetreuung in Deutschland ändern?

Marlies Helsing: Ich finde, die Pläne von Frau von der Leyen gehen schon in die richtige Richtung. Denn durch ein größeres Angebot an Krippenplätzen will sie ja erreichen, dass die Eltern frei entscheiden können, ob sie ihr Kind in die Krippe geben oder nicht. Diese Wahlfreiheit finde ich sehr gut. Noch wichtiger ist aber meiner Meinung nach, dass die Öffnungszeiten flexibler werden und man auch an der Qualität der Betreuung arbeitet, sprich, dass mehr Personal eingestellt wird. Ich bekomme zurzeit Förderung für 2,5 Erzieher - angestellt sind hier aber vier Erzieherinnen sowie zwei Aushilfen; nur so können wir eine optimale Betreuung in kleinen Gruppen gewährleisten. Denn darum geht es doch in erster Linie: Dass die Kinder sich wohl fühlen.

Info: Die 24-Stunden-Kita macht Schule

Die "Schnatterenten" sind mit ihrem Angebot nicht mehr allein in Deutschland. Auch in Hamburg gibt es inzwischen mit dem Kinderhafen eine Kita, die rund um die Uhr geöffnet ist und flexible Betreuungszeiten anbietet. Durch das Hamburger Kita-Gutscheinsystem entstehen für die Eltern nicht einmal zusätzliche Kosten: Seit 2003 bekommen Eltern von der Stadt Hamburg einen Gutschein für einen Betreuungszuschuss, der vom Einkommen abhängig ist. Für welche Einrichtung die Eltern den Gutschein verwenden, bleibt ihnen selbst überlassen - sie können sie also auch für Übernachtungen und Wochenendbetreuung im Kinderhafen einlösen. Sie zahlen somit nicht mehr als die von der Behörde festgelegten Elternbeiträge. Wie sein Vorgänger in Brandenburg kann sich auch der Hamburger "Kinderhafen" vor Anfragen kaum retten. Kürzlich wurde bereits der dritte "Anleger" in einem anderen Stadtteil eröffnet.

Interview: Michèle Rothenberg

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