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Der schmale Grat des Consent Wer A sagt, muss nicht B sagen

Der schmale Grat des Consent: Wer A sagt, muss nicht B sagen
© iDStock / Adobe Stock
Wer flirtet, will küssen, wer küsst, will auch Sex. Warum wir solche vermeintlichen Automatismen durchbrechen müssen und wie uns das gelingen kann.

Es heißt: "Wer A sagt, muss auch B sagen" oder "Eines führte zum anderen" – und das sind nur zwei der unguten Redewendungen, die wir von klein auf verinnerlicht haben. Ungut deshalb, weil sie suggerieren, dass bei einer Abfolge von Handlungen eine Art Zwangsläufigkeit besteht. Beim Sex sieht das klassischerweise in etwa so aus: Flirten führt zum Küssen, Küssen zum Anfassen, Anfassen zur Penetration. Doch dieses Denken verleitet dazu, unsere eigenen Grenzen zu verletzen, und zwar vor allem dort, wo ein Machtgefälle besteht – zwischen älterem Rockstar und jungem Fan, zwischen Lehrer und Schüler, Vorgesetztem und Mitarbeiter und häufig schlicht immer noch: zwischen Mann und Frau.

Diese vermeintlichen Zwangsläufigkeiten lassen uns Dinge tun, die wir eigentlich nicht tun wollen. Das bedeutet: Wenn wir Consent, also Einvernehmlichkeit beim Sex, wirklich leben wollen, müssen wir uns von solchen Automatismen lösen. Damit wir nicht länger mit Leuten ins Bett gehen, weil sie uns so großzügig eingeladen oder im Job so viel für uns getan haben, bis wir plötzlich das Gefühl hatten, nicht mehr Nein sagen zu können. Oder weil wir beim Date miteinander geknutscht haben, sodass der:die andere schon irgendwie erwarten kann, dass wir jetzt auch übereinander herfallen. 

Menschen erleben dieselbe Situation vollkommen unterschiedlich

Dass ein Umdenken stattfinden muss, zeigte bereits 2015 der "Washington Post-Kaiser Family Foundation Poll" überdeutlich. Dafür wurden 1.053 US-Student:innen gefragt, wie sie die folgenden Handlungen interpretieren: Jemand zieht sich aus; jemand holt ein Kondom; jemand nickt zustimmend; man küsst sich; es gibt ein Vorspiel. Die Frage an die Student:innen lautete: Bedeutet das eine oder andere, dass es zu weiteren sexuellen Handlungen kommen wird? Das Erstaunliche war: Knapp 40 Prozent der befragten Student:innen sagte Ja, fast ebenso viele Nein. Die Untersuchung kam auch zu dem Ergebnis, dass Männer häufig grünes Licht sehen, wo Frauen Gelb oder Rot signalisieren. All das zeigt: Menschen blicken ganz unterschiedlich auf dieselbe Realität – was die eine Person als Zustimmung zu sexuellen Handlungen wertet, kann das Gegenüber vollkommen anders sehen. Daher darf keine Handlung automatisch als Einladung zum Sex verstanden werden, weil wir nie wissen können, wie sie gemeint ist. Es sei denn, wir sprechen darüber. Und hier kommt das Prinzip "Ja heißt Ja" ins Spiel.

Das Prinzip "Ja heißt Ja"

In Deutschland lautet der Grundsatz des Sexualstrafrechts "Nein heißt Nein": Nur wer sich über das Nein des Gegenübers hinwegsetzt, macht sich strafbar. Die meisten europäischen Länder gehen einen Schritt weiter. Nicht nur in Spanien, Schweden, Finnland, Dänemark, Island, Malta, Kroatien, Slowenien, Griechenland und Dänemark gilt das "Ja heißt Ja"-Gesetz. Es erfordert eine "bewusste und freiwillige Zustimmung" zwischen zwei Menschen, bevor sie mit sexuellen Aktivitäten beginnen. Ausbleibender Protest oder Schweigen sind keine Zustimmung.

Und auch ein Ja ist kein Freibrief für alles. "Für jede Person muss es in jedem Moment möglich sein, zu sagen: Nein, das will ich nicht, das will ich nicht mehr, das will ich so nicht," wie die Gender-Expertin Paula-Irene Villa Braslavsky im BRIGITTE-Interview betonte. Zusammen nach Hause oder aufs Hotelzimmer zu gehen, heißt also längst nicht, dass es zum Sex kommt. Der charmante Clip "Consent – As simple as Tea" illustriert dies anhand einer Tasse Tee: Auch wenn man um einen Tee gebeten hat und der andere einem die gewünschte Tasse serviert, muss es möglich sein, zu sagen: "Danke, aber ich möchte keinen Tee." Beziehungsweise keinen Sex. 

Ein Ja kann erzwungen werden – wenn einer Macht über den anderen hat

Doch selbst das Prinzip "Ja heißt Ja" löst nicht alle Consent-Probleme. Denn sobald ein Machtgefälle besteht, kann ein Ja manipulativ herbeigeführt oder erzwungen werden, das zeigen die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch in der Kirche, in der Kultur, im Sport, in der Wissenschaft, im Job, in Partnerschaften und zuletzt die Causa Rammstein. Selbst wenn eine sehr junge Frau Ja dazu sagt, in der Konzertpause zum nicht mehr so jungen Frontmann Till Lindemann unter die Bühne zu kommen, hat sie nicht Ja dazu gesagt, dass es dort zu mutmaßlich sexuellen Handlungen kommen soll.

Doch wie sich aus so einer Situation befreien, ohne sich zu gefährden, zu blamieren oder für verklemmt und zickig gehalten zu werden? Zumal junge Frauen "auch heute noch strukturell mit der Botschaft aufwachsen: SEINE Bedürfnisse sind wichtiger als meine", wie Braslavsky feststellt. Und auch wenn ein Doktorvater andeutet, dass er seine Doktorandin fallen lässt, sobald sie das Verhältnis beendet, wenn die Chefin ihren Mitarbeiter mobbt, weil er in der Mittagspause nicht tut, was sie will, und wenn der Partner mit Trennung droht oder auch nur die Möglichkeit der Abstrafung oder Beschämung im Raum steht – dann kann ein Ja erzwungen werden.

Leider hat das "Ja heißt Ja"-Prinzip noch eine weitere kleine Schwäche: Nicht wenige Menschen halten es für unrealistisch, dass die Beteiligten vor und während einer sexuellen Begegnung immer wieder "Ja" zueinander sagen, auch einigen der befragten US-Student:innen ging das so. Selbst in vertrauensvollen Liebesbeziehungen ist es nicht unbedingt verbreitet, dem Sex verbal zuzustimmen. Dabei würden auch langjährige Partnerschaften davon profitieren, über den Sex zu reden, um Grenzen und Bedürfnisse zu artikulieren, die sich jederzeit verändern und verschieben können.

Sex als Pflichtveranstaltung in der Ehe

Historisch betrachtet verwundert es übrigens kaum, dass uns das ausdrückliche Ja oder Nein zum Sex manchmal schwerfällt. Denn neben der Pflicht, nach A auch B zu sagen, hatte noch unsere Elterngeneration "eheliche Pflichten" zu erfüllen. Laut einem BGH-Urteil von 1966 musste nicht nur der "Beischlaf gewährt", es musste dabei auch noch Zustimmung simuliert werden. Und den Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe gibt es erst seit 1997. Bis dahin spielte selbst die gewaltsame Missachtung eines Neins im heimischen Schlafzimmer rechtlich keine Rolle.

Doch bei allen Schwierigkeiten mit dem Ja zum Sex sollten wir es als Gesellschaft trotzdem einüben. Denn dieses kleine Wort kann uns in Sachen Einvernehmlichkeit sehr viel weiterbringen als Sprüche wie "Eines führte zum anderen" oder noch schlimmer: "Hätte sie sich halt nicht so angezogen".

Verwendete Quellen: Tagesspiegel, Washington Post, Bundestag.de, Amnesty.ch, OpinioIuris, Podcast Betreutes Fühlen

Brigitte

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