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Wie schade! Sind Spontanbesuche eigentlich out?

Andrea Lepperhoff: Eine Frau in sommerlicher Kleidung und Hut klopft an eine Haustür
© seligaa / Adobe Stock
Der Spontanbesuch stirbt aus. Was schade wäre, meint Andrea Lepperhoff. Weil er mehr als Wohnungstüren öffnet.

Da lümmelt man sonntags im Schlabbershirt auf dem Sofa, ungeschminkt und ungeduscht, plötzlich klingelt es. O Graus? Nö! Ich jedenfalls bediene begeistert den Summer, fahre mir flugs mit den Fingern durchs Haar. Verfrachte das Bügelbrett ins Schlafzimmer, kicke die Zeitschriften zur Seite und reiße die Tür auf: "Kommt rein, schöne Überraschung!"

Spontanbesuch empfand ich schon in Studientagen oft als Rettung: Blödes Büffeln unterbrechen und endlich mal wieder Abwechslung und Unterhaltung in der Bude haben! Wenn es spät wurde und wir Hunger kriegten vom Palavern und Rhabarbern, machte ich eine Nudel mit Tomatensauce, beides habe ich für Spontaneitäten bis heute stets im Vorrat.

Vom ungeplanten Miteinander kann man emotional noch am nächsten Tag zehren.

Unser aller Alltag ist seither distanzierter geworden, durchgetakteter. Daher gibt’s von meiner Art nicht mehr so viele. Alle, die ich gern besuche, dazu gehören auch meine beiden Cousinen, bekommen beim bloßen Gedanken an eine unangekündigte Heimsuchung Pickel im Gesicht. Ich frage mich, ob die wohl auf Tauchstation gehen, wenns läutet: "Duckt euch, Andrea kommt?" Die Meinungsforscher der Smart-Home-Firma Nest ermittelten kürzlich jedenfalls, dass sich die Hälfte der Befragten von unerwartetem Schellen gestört fühlen. Ein Drittel gab an, erst gar nicht zu öffnen.

Klingeln oder WhatsApp?

Auch mich besuchte schon lange niemand mehr spontan. Öffne ich so erwartungsvoll wie als Studentin die Tür, stehen davor immer nur Lieferjungs, die sich im Stockwerk vertan haben, oder Postboten, die für die Nachbarn was loswerden wollen. Und auch Nachbar:innen kündigen mittlerweile ihr Klingeln über einen Messenger-Kanal an, wenn sie ihr Paket abholen wollen oder Zucker brauchen. Daraus ergibt sich trotz Eile manchmal ein Balkonnachmittag – wer spontan ist, ist eben auch flexibel.

Die Pandemie hat die Lust, Leute reinzulassen (selbst Freund:innen), allerdings nicht gefördert. Marie Kondo auch nicht, die gab’s schon vor Corona. Die Aufräum-Queen aus Japan hat weltweit Millionen Follower:innen und stellt in ihren Büchern und Videos strenge Regeln auf, was ein Zuhause picobello macht. Wer ihre Style-To-dos ernst nimmt, ist vermutlich zu verunsichert, um je wieder überraschenden Besuch einzulassen!

Den Großteil der Menschheit macht das moderne Leben unspontan. Es ist gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert, irgendwo reinzuplatzen. Dafür ist der Alltag zu komplex. Viele Leute sind rund um die Uhr online und arbeiten sieben Tagen die Woche völlig individuell – morgens, mittags, durch die Nacht, wie’s privat oder beruflich gerade passt. Da stört Besuch natürlich. Auch der moderne Städtebau fördert den Wunsch, sich abzuschotten:In verdichteten Städten, mit Balkonen Backe an Backe, wird Privatheit zum kostbaren Gut.

All das macht WhatsApp beliebter als den Spontanbesuch. Dennoch fände ich es schade, geriete er in Vergessenheit. Weil er eine Art Liebeserklärung ist: Hey, du bist mir durch den Kopf gegangen, hier bin ich! Man setzt sich an den Küchentisch, den kommunikativsten Ort der Welt, und erlebt dann überraschend oft: innige Vertrautheit.

Brigitte

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