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Corona-Erschöpfung Die Welt ist chaotisch wie nie. Mir egal – ich bleibe einfach drinnen

Corona-Erschöpfung: Frau sitzt vor Fenster
Drinnen Netflix und selbstgebackenes Brot, draußen Kriegsangst und Querdenker
© Olena Yakobchuk / Shutterstock
Die meisten von uns verbringen seit fast drei Jahren viel Zeit drinnen, aus guten Gründen. Oft nervte das. Aber die Lust, rauszugehen, schwindet bei mir und auch anderen derzeit immer mehr.

Ein Kolumnist einer großen Zeitung befürchtete kürzlich einen "neuen Biedermeier". Der Biedermeier war, extrem knapp zusammengefasst, eine Epoche in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der sich das Leben innerhalb engster Zirkel und hauptsächlich in den eigenen vier Wänden abgespielt hat. Ein Rückzug ins flauschige Innere. Kommt einem tatsächlich bekannt vor, oder? Eigentlich ist es doch längst schon so weit. Und das Drinnenbleiben ist längst nicht mehr nur noch das Befolgen von Coronaregeln, es ist inzwischen ein Statement, ein Selbstschutz, ein Akt des Protestes. Die Welt da draußen wird mit jedem Tag chaotischer. Auf eine Weise, die unsere Generationen so noch nie erlebt haben. Und statt auf die Straße zu gehen, bleiben immer mehr Menschen – drinnen.

Seit Beginn der Pandemie hocke auch ich, mit nur kurzen Unterbrechungen, fast permanent zuhause. Nicht, weil ich keinen Job habe. Keine Freunde, keine Familie, Interessen, keine Lust auf Erlebnisse. Habe ich alles, sehr. Aber gut zwei Jahre lang war ich überzeugt davon, mit dem Drinnenbleiben das richtige zu tun. Damit mich und meine Lieben zu schützen. Ich habe von zu Hause gearbeitet (und tue es immer noch, worüber ich gleichzeitig sehr froh und ein wenig traurig bin). Ich habe Brot gebacken. Ich habe mir die Sprachlern-App Duolingo runtergeladen und an meinem eingerosteten Französisch gefeilt. Ich habe dicke Bücher gelesen. Das war, die meiste Zeit, okay.

Am Anfang war das Drinnenbleiben Bürgerpflicht

Im Sommer war ich dann ein paar Mal draußen unterwegs. Open-Air-Konzerte und im Café draußen sitzen, bei ohnehin überschaubaren Inzidenzen, das war für alle fein. Es war wirklich schön. Großes Euphoriegefühl. "Wie früher", seufzten wir zufrieden. Aber dann war der Herbst wieder da, und das Virus auch, und ich blieb drinnen. Ein einziges Mal waren wir in der dunklen Jahreszeit im Restaurant, drinnen. Danach leuchtete meine Corona-App zum ersten Mal rot. Wir hatten uns nicht angesteckt, trotzdem war mir danach die Lust auf weitere solche Wagnisse vergangen.

Und jetzt sollen alle Beschränkungen nach und nach fallen, in großen Teilen sogar die Maskenpflicht. Das, während sich in meinem Umfeld einer nach dem anderen ansteckt. Während Eltern und Kinder über die Zustände in den Schulen und Kitas klagen, über die Unvereinbarkeit von Beruf, Familie und Pandemie, während Kultusminister:innen und Politiker:innen schier menschenfeindliche Ansage an Eltern und Jugendliche machen. Okay, dann drängt euch halt ab jetzt wieder ohne Masken in Geschäften. Baut auf die Vorsicht und die Solidarität derer, die in großer Zahl seit Monaten zeigen, dass sie weder diese Begriffe noch wissenschaftliche Tatsachen verstehen. Ich bleibe drinnen.

Ist es draußen wirklich so toll?

Da draußen gab es eine schreckliche Flutkatastrophe, die Ahrweiler zerstörte, und die Politik schaffte es nicht, helfend einzugreifen, ohne den Eindruck bloßer Eigen-PR zu vermitteln. Es gab einen zermürbenden Wahlkampf, der auch dem Enthusiastischsten in Deutschland die Lust an Politik madig gemacht haben dürfte. Und gerade schauten wir Olympische Spiele in einem Land, in dem Menschenrechte eher als Vorschlag betrachtet werden. Sie fanden dort trotzdem statt, genau wie es die Fußball-WM in Katar im Herbst tun wird, oder große Formel-1-Rennen in diversen sehr reichen, sehr undemokratischen Staaten. Ich könnte ausrasten vor Zorn über solche Dinge, die man als Einzelner scheinbar in keinster Weise beeinflussen kann. Aber ich bleibe drinnen.

Jeder im Land kennt die Probleme in der Pflege, weiß von den unmenschlichen Arbeitsbedingungen und begreift, dass nur deutlich(!) höhere Gehälter und die Abkopplung von Kliniken und Pflegeheimen von der Wirtschaft die Lösung für diese Probleme sein können. Aber niemand handelt. Stattdessen wird geklatscht (und auch das nur ein paar Tage lang), es wird daran gearbeitet, Personal aus dem Ausland anzuwerben, für das die schlechten Bedingungen akzeptabel sind, es wird eine Gedenkmünze(!) für die Pflegenden herausgegeben, die nicht einmal alle Mitarbeitenden in diesem Bereich gratis bekommen. Es ist zum Haareraufen. Aber ich habe nach diesen drei Jahren nicht mehr die Energie, mich aufzuregen. Ich bleibe drinnen.

Wenn ich lese, wie viele sich hier ernsthaft mit der Situation in der Ukraine beschäftigen oder mit den Inzidenzen, mit Politikern, dem Klimawandel. Ich sollte das auch. Aber ich kann es nicht. Mein Kopf ist voll und ich bin ganz ehrlich froh, wenn ich morgens aus dem Bett komme.

— Bürorebellin. (@hasshase1) February 22, 2022

Drinnen, und ratlos

Ich bleibe drinnen, esse zu viel Schokolade, trinke zu viel Kaffee, sehe zu viele Serien, die explizit nichts mit aktuellen Geschehnissen zu tun haben und höre zu viele Podcasts, die explizit nichts mit aktuellen Geschehnissen zu tun haben. Ich lechze nach Eskapismus und fühle mich schlecht deshalb. Draußen protestieren junge Menschen mit viel Einsatz für die Rettung des Klimas, ich habe so viel Hochachtung dafür, und so wenig Energie. Ich bin nicht nur drinnen in meiner Wohnung, ich bin auch drinnen in meinem Kopf, mit so vielen Schutzschichten zwischen meinen Gedanken und der Welt da draußen wie möglich. Und nebenbei ploppen Eilmeldung auf, die vor einem sich ankündigenden Krieg warnen.

Man wünscht sich, auch mit Mitte dreißig, dass bald mal eine Erwachsene kommt und dieses Chaos beseitigt und alles regelt. Jemand, der Taschengeld erhöhen, aufräumen und Streithähne zu Entschuldigungen zwingen kann. Aber so jemanden gibt es nicht und sollte es auch nicht geben. Das müssen wir alleine hinbekommen. Ich weiß allerdings nicht, wie. Und bis ich es weiß, sorry, solange bleibe ich drinnen, schaue alte Folgen von "The Office" und ziehe mir ratlos die Decke über den Kopf.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf stern.de.

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