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Du musst nicht "funktionieren" Sweet Reminder: Wir leben immer noch in einer Extremsituation

Corona aktuell: Frau am Meer
© Avelino Calvar Martinez / Shutterstock
Um die Erwartungshaltung an uns selbst mal ein wenig zu entlasten, erwartet dieser Artikel rein gar nichts von dir.

Gestern bin ich an der Aufgabe gescheitert, ein Treffen mit meiner besten Freundin zu vereinbaren. Das mag an der Vorweihnachtszeit liegen. Oder daran, dass sich mein Kalender aktuell mit Gedanken statt Terminen füllt: Ein Wochenende besuche ich Freunde. Sollte ich das überhaupt noch tun? Oder lieber absagen? Wie hoch ist die Inzidenz dort eigentlich? Apropos: wäre es nicht sicherer, mit dem Auto statt der Bahn zu fahren? Ein anderes Wochenende besuche ich meine Familie. Darf ich davor denn überhaupt jemanden sehen? Oder wäre es klüger, sie als Erzieherin erst danach zu treffen? Oder draußen? Wie hoch war nochmal das Risiko, geimpft das Virus weiterzutragen, bei dieser neuen Variante, Omikron, oder? Und überhaupt, wie machen wir das dieses Jahr eigentlich vor Weihnachten...

Irgendwann vermischten sich diese Gedanken zu einem Surren. Ich bekam Kopfschmerzen. Ich schickte meiner Freundin keinen Terminvorschlag, sondern genau das. Sie antwortete mir damit, dass sie ohnehin gerade krank sei. Und damit, dass sie bei der Krankmeldung auf der Arbeit doch glatt den Namen ihrer Kita-Gruppe vergessen hatte. In ihrem Kopf breitete sich auf die Frage nach Marienkäfer oder Mäusegruppe nur undurchsichtiger Dunst aus. Und während ich diese Trübung noch in einem Absatz voller Fragen beschrieb, lieferte sie mir das Wort, nachdem ich zu Beginn des Artikels noch gesucht hatte: Brain fog. Gehirnnebel.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber in meinem Kopf ist gerade sehr viel Nebel. Er besteht aus Inzidenzen, Impfterminen, Interessenskonflikten. To Dos, Teams-Konferenzen und Terminabsagen. Und während ich noch zwischen all den Is und Ts jongliere, kommt ein neuer griechischer Buchstabe dazu, über den ich am Abendbrottisch müde mit meinem Partner spreche. Ja, die Pandemie beherrscht wieder unsere Gedanken und unseren Alltag und vielleicht ist es gar kein wieder, sondern ein noch immer. Denn an diesem Abend an diesem Tisch sagt mein Freund diesen kleinen Satz: Du gestehst dir nicht zu, dass wir noch immer in einer Extremsituation leben. Wumms. 

Stimmt, da war ja was. Vor mittlerweile fast zwei Jahren (ich mag es kaum aufschreiben), wurde uns dieser Satz mantraartig eingeflößt, von Medien, Vorgesetzten, Politiker:innen: Das ist eine Ausnahmesituation. Du musst nicht funktionieren. Du darfst Konzentrationsschwierigkeiten haben. 

Wir erwarten von uns, normal zu funktionieren, während nichts um uns herum normal funktioniert

Heute spricht so gut wie keine:r mehr davon, weniger als 100 Prozent zu geben, die Fragen nach unserem Gemütszustand sind verschwunden und wer kann es uns verdenken – denn wir haben nun wirklich keine Lust mehr, über Corona zu sprechen und darüber, was es mit uns macht. Nur dass es eben trotzdem weiter macht, mit dem, was es seit zwei Jahren tut, auch wenn wir aufhören, davon zu sprechen.

Blitzschnell sind wir von der anfänglichen solidarischen Schockstarre wieder in den Machermodus gewechselt, wir arbeiten und kümmern und planen, schließlich muss es doch weiter gehen, schließlich ist das doch unsere neue Normalität. Wir erwarten von uns, normal zu funktionieren, während nichts um uns herum normal funktioniert. 

Wir müssen nicht jeden Tag darüber reden, wie schlecht die Welt ist, aber wir müssen akzeptieren, dass dieser Zustand unsere Lebensrealität beeinflusst. Ob wir wollen oder nicht. Vor 19 Monaten ist zu unseren 40-Stunden-Wochen, unserer Care-Arbeit, dem Sozial-Leben und dem, was wir Freizeit nennen, eine Pandemie dazugekommen. Und ihr Gewicht ist leider Gottes auf jeder einzelnen Lebenssäule spürbar.

Unser Durchhaltemuskel kann noch so stark sein, ein verschobenes Sozialleben, isoliertes Home-Office und ständige Sorgenmacherei werden irgendwann zu schwer. Dann bricht entweder eine Säule ein, oder wir werden im ganzen Gerüst immer schwächer. Und müder. Und machen uns dann bestenfalls noch Vorwürfe, wieso wir nicht mehr so leistungsfähig sind wie früher. Wieso wir keine neuen Ideen mehr haben, keine neuen Freundschaften mehr knüpfen, keine neuen Hobbies entdecken. Na, weil wir permanent damit beschäftigt sind, uns zu fragen, ob wir diese überhaupt realisieren können. 

Es ist immer noch okay, nicht okay zu sein, auch wenn es nervt.

Es ist ja nicht nur so, dass die Pandemie unsere letzten zwei Jahre und unser Jetzt geraubt hat. Sie nimmt uns auch ein Stück unserer Zukunft, deren Planung gerade ebenfalls im Nebel liegt. Unsicherheit macht etwas mit dem Menschen, mit manchen vielleicht mehr als mit anderen, aber wegdiskutieren lässt sie sich nicht. 

"Aber ich kann doch nicht seit zwei Jahren nur 80 Prozent geben. Aber ich muss doch mal wieder mehr mit meinen Kindern unternehmen. Aber ich muss doch langsam mal wieder die nächste Karrierestufe anstreben. Aber es muss doch verdammt nochmal weitergehen." Höre ich die Proteste der Leistungsgesellschaft doch schon.

Vielleicht müssen wir gerade aber vor allem lernen, nichts zu müssen. Nicht immer höher, schneller und besser zu werden. Um zu merken, dass nichts passiert, wenn wir nur 80, an manchen Tagen vielleicht nur 50 oder gar 20 Prozent geben. 

Bei doppelter Last können wir nicht gleiche Leistung erwarten. Deswegen erwartet dieser Artikel rein gar nichts von dir. 

Brigitte

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