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Boomer Warum wir eine zerrissene Generation sind

Historikerin Miriam Gebhardt: Erwachsene Frau am Laptop
© STUDIO TAURUS / Adobe Stock
Sich durchbeißen. Zweifel wegwischen. Nicht anecken. Bloß nicht als Frau allein bleiben. Bist du auch so groß geworden? Dann zählst du zur Generation der Boomer. Die Historikerin Miriam Gebhardt über "Nachkriegseltern" und wie sie ihre Töchter prägten.

BRIGITTE WOMAN: Frau Gebhardt, Sie halten die Babyboomer, die Jahrgänge zwischen 1955 und 1970, für eine innerlich zerrissene Generation. Warum?

Miriam Gebhardt: Wir sind mit extrem widersprüchlichen Botschaften aufgewachsen. Durch unsere Eltern steckt uns stark die Nachkriegsgeschichte in den Knochen – Familie und die traditionelle Mutterrolle wurden noch großgeschrieben. Hinzu kam, dass man sehr beengt zusammen wohnte, die Geschlechterzuschreibungen noch streng waren. Gleichzeitig sind wir die ersten Profiteure des Wertewandels der Siebzigerjahre. In unserer Jugend herrschte eine relativ große Freiheit und Großzügigkeit.

In Ihrem Buch "Unsere Nachkriegseltern" kritisieren Sie, dass vor allem wir Töchter unentschieden erzogen wurden: Wir sollten uns emanzipieren, wurden aber schnell von unseren Müttern zurückgepfiffen, wenn wir nach vorn preschten.

Leider, ja. Unsere Mütter signalisierten uns: "Stellt unser Lebensprinzip nicht zu sehr infrage!" Wir haben zwar mitgekriegt, was für ein schwieriges Schicksal es sein konnte, Frau zu sein: nicht viel mitentscheiden zu können, über kein eigenes Geld zu verfügen. Eine abschreckende Abhängigkeit! Doch wenn wir beschlossen: Ich heirate nicht, ich gehe meinen eigenen Weg, ich setze auf Karriere – hat das das Leben der Mutter extrem infrage gestellt. Das kam oft nicht gut an.

Wir haben kaum etwas an die Hand bekommen, woran wir uns orientieren konnten.

Genau. Ich denke, deshalb verfügen wir so wenig über das Diplomatische, Spielerische. Ich habe bei mir selbst oft beobachtet: Ich bin entweder zuvorkommend oder wütend. In Streitgesprächen oder auf Podiumsdiskussionen bin ich früher schnell von null auf hundert gegangen, war sofort auf der Palme. Man nennt das kontraphobisch. Die Überlegung dahinter: Bevor du mir blöd kommst, komme ich dir zuvor. Kann man sehr oft bei Frauen dieser Jahrgänge beobachten.

Unsere Mütter verharrten oft in einer Ehe, auch wenn sie unglücklich war.

Es war klar: Du musst einen Mann haben! Es warf ein schlechtes Licht auf eine Frau, wenn sie keinen hatte. Für unsere Mütter war es noch nicht selbstverständlich, sich allein in der Öffentlichkeit zu bewegen. Meine Mutter ist nicht allein in ein Restaurant gegangen, hätte sich nie allein ein Taxi genommen. Obwohl sie zweimal studiert hat und eine hoch qualifizierte Frau ist. Doch es hätte sie stärker getroffen, alleinstehend zu sein, als in ihrem Wissen unterschätzt zu werden.

Wie äußerten sich die Widersprüche der Mütter uns gegenüber konkret?

Wie sehr durften wir uns schminken? Dürfen wir aggressiv sein? Oder doch besser lieb? Ich bin mit einer Mutter aufgewachsen, die sich total schöne Kleider nähte, stundenlang schminkte. Vor einer richtigen Frisierkommode, mit tausend Bürsten. Ich aber durfte nie ihre Kleider tragen, nie ihre Schminke benutzen. Von ihrer Weiblichkeit wollte sie mir nichts beibringen, mich auf keinen Fall zum süßen Mädchen machen. Niemals hätte ich mich als Prinzessin verkleiden dürfen. Und trotzdem gingen die Botschaften eindeutig in die Richtung: Du musst super aussehen. Oder: Man ist auf jeden Fall schlank. Das nehme ich der Generation unserer Mütter übel, dass sie uns kaum lebbare Normen des Frauseins hinterlassen hat.

Wir waren als junge Frauen auch ziemlich allein gelassen mit unseren Körpern.

Ja, ich habe nichts darüber gelernt, was es bedeutet, einen Frauenkörper zu haben. Wie geht man zum Beispiel selbstbewusst mit der Menstruation um? Von Body-Positivity waren wir Lichtjahre entfernt. Die meisten Frauen meiner Generation waren bei der Transformation des Körpers vom Kind zur Frau völlig auf sich gestellt. Niemand ist uns zur Seite gestanden. Egal ob es um die erste Monatsblutung ging oder um die Wechseljahre. Da wurde nicht drüber geredet, es existierte nicht. Im Gegenteil, beim Thema Hitzewallung hat meine Mutter nur spitz gesagt: "Oh, das hatte ich gar nicht."

Das Wegwischen von Zweifeln äußerte sich auch im Umgang mit Männern. Sie schreiben über Szenen im damals üblichen Partykeller: Sicher hätten damals gern einige Frauen "Me too" gerufen.

Die sexuelle Befreiung stand sehr plakativ im Raum. Aber es ist ja kein Geheimnis, dass sie auf Kosten von Frauen, jüngeren und älteren, gelebt wurde. Dass Männer übergriffig wurden, galt als ziemlich normal. Dort, wo ich aufgewachsen bin, in meinem kleinbürgerlichen Stadtviertel, war es Alltag, Exhibitionisten oder Spannern zu begegnen. Oder eine Frau musste es lächelnd über sich ergehen lassen, wenn der Chef oder der Nachbar den Arm um sie legte. Und freundlich nicken, wenn das Aussehen kommentiert wurde. Das hat sich sowieso kaum jemand verkniffen.

Wie haben Sie das selbst erlebt?

In meinem ersten Beruf als junge Journalistin habe ich Grenzüberschreitungen erlebt, die damals selbstverständlich waren. An der Wand über dem Schreibtisch an meinem ersten Arbeitsplatz hing, logisch, das Bild eines Playmates. Die Männer spielten Dart, tranken Bier, und ich als "Mausi", wie man mich nannte, wurde zur Rohrpost geschickt, machte den Bürodiener. Mir hat ein Kollege später mit breitem Grinsen erzählt, dass die Dreierrunde, die damals entschied, ob ich den Platz für eine Hospitanz bekommen würde, vorher schon ausgemacht hatte: "Wenn sie uns optisch gefällt, nehmen wir sie, sonst nicht."

Brodelten Sie damals innerlich?

Ich war tief beschämt. Ich fühlte mich innerlich ja nicht zahm: Mit 17, 18 Jahren hatte ich wie viele andere angefangen, mich für den Feminismus zu begeistern, war von dem Thema sehr aufgewühlt. Und doch war es im damaligen Klima schwer, selbstbewusst aufzutreten. Was leider auch nicht ging: als junge Frau auf die weibliche Karte zu setzen. Über den Charme, das Aussehen zu taktieren, war ein totales Tabu.

Wir waren also nicht so souverän, wie alle dachten.

Unser Selbstbewusstsein hat enorm verzögert eingesetzt. Als junge Journalistin gehörte ich einem Jahrgang von sehr guten, aber auch sehr von sich eingenommenen männlichen Schreibern an – die haben sich früher oder später alle wichtige Posten in der Branche zugespielt. Ich existierte eher nur am Rand. So erging es vielen Babyboomerinnen – immer diese etwas verstolperten Karrieren und das blöde Gefühl, zu spät zu kommen, wenn wichtige Posten vergeben wurden. Typisch war, dass man als Frau damals als "Talent" bezeichnet wurde, aber nie in den Status der ernst genommenen Kollegin aufrückte. Es gab keinen Mann, der mit mir in einen guten Wettbewerb gegangen wäre.

Wann hat sich ein Gefühl der Stärke eingestellt?

Die Angst davor, bei den anderen durchzufallen, hört Gott sei Dank irgendwann auf. Ab einem gewissen Alter ist die Rolle des geschmeidigen Wesens einfach nur noch doof. Aber es ist schon schade, wie viel Einsatz wir bringen mussten, um diese Souveränität zu erreichen. Aus einem Gefühl der Unterlegenheit heraus haben wir uns lange wie die Verrückten abgerackert, Qualifikationen gesammelt, uns überdurchschnittlich gebildet. Ich hatte sogar das Gefühl, ich muss mich habilitieren, um in einer Diskussion ernst genommen zu werden. Trotzdem gibt es noch immer Männer, die versuchen, mich in meiner eigenen Disziplin zu belehren. Früher hat mich das unfassbar geärgert.

Und heute?

(Lacht) Es hat gedauert, bis ich gelassen kontern konnte: "Nein, das ist falsch, was Sie sagen." Ich kann es jetzt besser an mir abperlen lassen. Komme nicht mehr mit einem Schwall von Argumenten daher, bis meinem Gegenüber der Mund offen stehen bleibt. Das empfinde ich heute eher als ein Zeichen von Schwäche.

Wir verfügen nicht unbedingt über die Waffen, cool in eine Diskussion zu gehen?

Nein, lieber kriegen wir Herzrasen und denken empört: Was hat der da gerade gesagt? Wir fühlen uns zu schnell kleingemacht. Und leider beherrschen wir das Rempeln nicht so gut – ein Talent, das vieles leichter machen würde. Darum beneide ich die Männer manchmal sehr. Mein Mann spielt in einer Tennismannschaft, und ich bin echt erstaunt, was die sich dort für Unverschämtheiten an den Kopf knallen. Wenn wir Frauen das miteinander machen würden, wären alle so beleidigt, dass wir nie wieder ein Wort miteinander sprechen würden.

Dabei würde es uns vermutlich guttun, wenn wir uns mal so richtig fetzen würden und danach sagen könnten: Schwamm drüber.

Ja, wir machen es uns da viel zu kompliziert.

Auf der anderen Seite schreiben Sie, dass unsere Eltern ihre "Gefühle in einem Kühlschrank" weggesperrt hätten und von uns Härte erwarteten, um das Leben zu meistern.

Wir haben gelernt, wir müssen allein durchkommen, dürfen niemandem Mühe machen. Man darf nicht unterschätzen: Die Methoden der berüchtigten Erziehungsratgeberin Johanna Harrer aus der NS-Zeit waren noch bis in die Sechzigerjahre populär. In den Alete-Broschüren stand noch: "Kinder nicht küssen!" Die sogenannte Affenliebe war bei den Nazis verpönt, unsere Eltern hatten verinnerlicht: bloß keine Zärtlichkeit, bloß nicht zu viele Gefühle.

Heute unvorstellbar.

Wenn sich meine Eltern von mir verabschiedet haben, lief das immer kühl und sachlich ab. Sie sind mal mit dem Auto nach Spanien bis an die Atlantikküste gefahren, ich wurde in der Zeit wochenlang ins Ferienlager geschickt. Da gab es kein Lebenszeichen, vielleicht kam nach drei Wochen mal eine Postkarte. Auf der stand: "Wunderbar hier, wir essen Meeresfrüchte, das hätte dir eh nicht geschmeckt." Als wir uns wiedersahen, hätte ich mich nie getraut zu sagen: "Leute, ich hatte Heimweh!"

Es galt die Parole: Ihr müsst euch durchbeißen.

Und es galt das Askese-Ideal. Man durfte sich nie zu sehr gehen lassen. Wir sollten körperlich tough sein. Es waren wenig Toleranz oder Spielraum da, wenn es einem mal nicht so gut ging. Ein Standardsatz von mir war: "Das schaffe ich schon!" Später habe ich festgestellt, immer wenn ich den im Kopf hatte, bin ich gerade über meine Grenzen gegangen. Das Gute war, dass in den Siebzigern dann ein neues Programm aufgelegt wurde: Durch den Psycho-Boom konnten wir vieles nachholen, endlich die eigenen Bedürfnisse erkennen und auch stillen. Selbstfürsorge und Selbstwertschätzung kamen zum Zug. Eine große Chance für uns.

Und trotzdem ist bei vielen von uns das Gefühl geblieben, nie so richtig erwachsen geworden zu sein. Obwohl wir uns so angestrengt haben.

Das stimmt. Als würden wir nie ankommen. Das hängt auch damit zusammen, dass wir ein großes Stück weit für das psychische Heil der Eltern zuständig waren, für ihre Reparatur. Wir mussten starke Antennen haben, uns sehr auf sie einstellen.

Ihr Buch fordert dazu auf, Rückschau zu halten, sich die eigene Geschichte noch einmal genau anzuschauen. Was kann das bringen?

Wir könnten so begreifen: Alles, was wir als bedrückend erlebt haben, ist nicht so sehr persönliches Schicksal. Es ist allen auf eine Art ähnlich ergangen. Dann kämen wir aus dem Denkmuster raus: All das haben meine Eltern nicht richtig gemacht. Da haben viele von uns etwas Zwanghaftes. Autonom und erwachsen wird man erst, wenn man diese alten Denkmuster aufgibt.

Miriam Gebhardt, geboren 1962, Tochter eines Psychologen und einer Psychologin, ist Journalistin und Professorin für Geschichte. Furore machten ihre Bücher "Als die Soldaten kamen" (2015) und "Wir Kinder der Gewalt" (2019). In beiden erforschte sie, welche Spuren die Massenvergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg in unserer Gesellschaft hinterlassen haben. Gebhardt lebt mit ihrem Mann bei München.

Brigitte

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