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Blinde Make-up-Künstlerin "Ich bin eine ganz normale Frau, die Wert auf ihr Äußeres legt"

Make-up-Artist Tina Sohrab setzt sich für Inklusion in der Beauty-Branche ein
Make-up-Artist Tina Sohrab setzt sich für Inklusion in der Beauty-Branche ein
© Instagram/privat
Tina Sohrab, 30, wurde als Teenager über Nacht blind. Doch das hindert sie nicht daran, ihren Weg zu gehen: Heute produziert sie aufwändige Make-up-Tutorials.

Tina Sohrab wurde mit der Netzhauterkrankung "Retinitis pigmentosa" geboren. Sie brach bei ihr spät und sehr plötzlich aus: Mit 15 Jahren verlor sie über Nacht ihr Augenlicht. Heute hilft die 30-Jährige sehbehinderten Menschen, ihr Leben zu bewältigen. Mit ihrer Firma "Blind and Beauty" erstellt sie aufwändige Make-up-Tutorials und setzt sich für Inklusion in der Beauty-Branche ein.

BRIGITTE: Sie sind mit 15 Jahren blind geworden und haben trotzdem einen visuellen Beruf gewählt. Wie kam es dazu?

Tina Sohrab: Die sehende Gesellschaft kann sich nicht vorstellen, warum eine blinde oder sehbeeinträchtigte Person sich die Mühe macht, Make-up aufzutragen, obwohl sie sich selbst nicht sieht. Doch für mich ist Make-up nicht nur etwas Visuelles, es verändert auch das Auftreten: Man wird selbstbewusster und entwickelt ein Gefühl von Stärke, sodass man ein ganz anderes Standing bekommt.

Ist Schminken deshalb so wichtig für Sie?

Make-up trägt auch dazu bei, dass andere Menschen mich nicht nur als Blinde wahrnehmen, sondern sehen: Das ist eine ganz normale junge Frau, die Wert auf ihr Äußeres legt, die sich gerne zurechtmacht und sich schön fühlen möchte – anders als im Klischee von der Blinden als grauer Maus.

Hatten Sie auch schon vor Ihrer Erblindung ein Faible für Make-up und Beauty?

Ich bin ja im Teenager-Alter erblindet und hatte natürlich immer sehende Freudinnen. So ist das ganze Beauty-Thema nicht an mir vorbeigegangen. Nach meiner Erblindung habe ich dann nach einem Weg gesucht, wie ich das für mich umsetzen kann.

Und wie haben Sie den gefunden?

Am Anfang hatte ich eine Trainerin, die mir zeigen sollte, wie ich mich im Alltag zurechtfinde. Ich habe sie nach Tricks gefragt, wie ich mich schminken kann, und sie hat mir gezeigt, wie ich durch das bloße Ertasten mit den Händen Make-up auftragen kann. Das war der Startschuss für mich. Ich habe mich ausprobiert, und nachdem ich viel positives Feedback bekommen habe, habe ich immer weiter herumexperimentiert. Dabei fand ich es schade, dass es keine Anlaufstellen gab, wo ich mir Hilfestellungen holen konnte.

Und so kamen Sie auf die Idee zu Ihren Make-up-Tutorials?

Genau. Irgendwann hatte ich die Idee, selbst blindengerechte Tutorials zu entwickeln. Dazu musste ich mir aber erst professionelles Know-how aneignen. So habe ich mich für die Ausbildung zur Make up Artist an der "Akademie Deutsche POP" entschieden. Dort habe ich ein 1:1-Coaching bekommen, das mich in meiner Entscheidung gefestigt und mir wichtige Tools für meine Karriere mitgegeben hat.

Heute produzieren Sie mit Ihrer Firma "Blind and Beauty“ Make-up-Tutorials für Social Media. Für wen genau machen Sie das?

In erster Linie für visuell beeinträchtige Menschen. Ich möchte ihnen die Möglichkeit geben, sich genauso zu schminken wie jede:r andere auch. Und ich möchte der sehenden Gesellschaft zeigen, dass auch sehbeeinträchtigte und blinde Frauen sich schön fühlen möchten und sich zurechtmachen können. 

Aber sehbeeinträchtigte Frauen können Ihre Videos nicht anschauen.

Das Spektrum ist ziemlich groß – es gibt viele, die noch einen guten Sehrest haben und das Videomaterial visuell verfolgen können. Ich beschreibe aber auch alles sehr genau, sodass jeder einzelne Schritt leicht nachvollziehbar ist. Blinde Frauen profitieren von meinen sehr ausführlichen auditiven Beschreibungen.

Wie funktioniert das Schminken, wenn man blind ist – gibt es spezielle Hilfsmittel oder Produkte?

Nein, aber die Hände spielen eine wahnsinnig große Rolle. Sie haben mir ein grundlegendes Verständnis für mein Gesicht gegeben. Ich habe ertastet, wo genau meine Wangenknochen sind, oder wo die Lidfalte beginnt und wo sie endet, damit ich weiß, was in meinem Gesicht passiert, wenn ich Produkt auftrage. Heute arbeite ich aber mit Pinseln oder Spateln wie jede andere Frau auch. 

Wie machen Sie das?

Das war ein Lernprozess, den ich während meiner Ausbildung durchlaufen habe. Dort habe ich zum Beispiel gelernt, wie man sich mit dem Finger die Lippenkonturen entlangfahren kann, während man mit der anderen Hand Lippenstift aufträgt. 

Wie erkennen Sie Farben und wie stellen Sie diese zusammen?

Ich habe ja den großen Vorteil, dass ich nicht immer blind gewesen bin und eine Vorstellung davon habe, wie Farben aussehen. Und wenn ich mir neue Produkte kaufe, etwa eine Lidschattenpalette, lasse ich sie mir beschreiben. Bei der Masse an Produkten, mit denen ich aufgrund meines Berufs zu tun habe, schreibe ich mir auf, welche Töne in welchem Fach in welcher Reihe sind. Daran orientiere ich mich.

Und wie wissen Sie, wann ein Look perfekt ist? 

Ich habe ein Gefühl dafür entwickelt. Mittlerweile weiß ich, wie oft ich mit dem Pinsel in die Farbe gehen und wie ich ihn abtupfen muss. Dahinter steckt viel Übung und Routine. Wenn ich mich für den Alltag schminke, muss auch niemand mehr draufschauen, ich frage meinen Mann auch nicht mehr, ob da noch ein Rest Mascara oder Lippenstift hängt. Beruflich sieht das etwas anders aus. Wenn wir vor der Kamera schminken, lasse ich schon nochmal jemanden drüberschauen. 

Auf TikTok zeigen Sie, wie Sie zu Hause Ihren Herd bedienen und passende Sockenpaare finden. Was möchten Sie damit erreichen?

Ich bin Mutter eines siebenjährigen sehenden Sohnes, bin verheiratet, arbeite, koche, gehe einkaufen und putze wie jeder andere Mensch auch. Das können die meisten sich aber nicht vorstellen – sie denken, die sieht ja nichts, wie geht das überhaupt? Es ist mir wichtig zu zeigen, dass ich nicht in einem krassen Hightech-Haushalt mit lauter sprechenden Geräten lebe oder mit einer Betreuungskraft, die mir alles abnimmt.

Gibt es etwas, das Sie noch beruflich erreichen möchten? 

Barrierefreiheit und Inklusion in der Beauty-Industrie sind mir sehr wichtig – etwa die Frage, wie man Produkte in der Drogerie oder Parfümerie für sehbeeinträchtigte Menschen zugänglich machen kann. Damit alle ihre eigenen Entscheidungen treffen können, ohne dass jemand sagt: Das passt schon für dich, das sieht super aus. Jede:r sollte die freie Wahl haben und selbstbestimmt entscheiden können – genau wie sehende Menschen auch.

Haben Sie schon eine Idee, wie das funktionieren könnte?

Wenn ein Lippenstift auf der Verpackung einen QR-Code hätte, könnte der Screen Reader auf dem Smartphone einem vorlesen, um welches Produkt es sich handelt. Man müsste Dinge, die bereits vorhanden sind, also einfach mit der entsprechenden Technik verknüpfen. Insgesamt möchte ich Betroffenen ermöglichen, eigenständiger und selbstständiger zu werden. Dass sie sich trauen, eigene Entscheidungen zu treffen und ein positives Beispiel zu sein, um mit den ganzen Vorurteilen und Klischees über Blinde aufzuräumen. Das ist für mich das Allerwichtigste. 

Brigitte

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