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Biphasischer Schlaf Jahrhundertelang schliefen die Menschen in zwei Phasen – und standen mitten in der Nacht auf

Biphasischer Schlaf: Frau liegt im Bett und schläft
© Syda Productions / Shutterstock
Durchschlafen ist eine moderne Erfindung: Viele Jahrhunderte lang gingen die Menschen schlafen, um mitten in der Nacht aufzustehen – und sich dann wieder hinzulegen.

Wer heute mitten in der Nacht aufwacht, verfällt schnell in Panik. Schnell geht der Blick zur Uhr, das Kopfrechnen geht los: Wie viele Stunden Schlaf bleiben noch, bis der Wecker klingelt? Je weiter sich das Einschlafen hinauszögert, desto unruhiger wird man. Einerseits ist diese Sorge berechtigt: Die meisten unserer Tage beginnen zu festen Uhrzeiten, der Schlaf ist also begrenzt. Andererseits aber sind Wachphasen in der Nacht etwas völlig Natürliches: Jahrhundertelang war es für die Menschen sehr ungewöhnlich, nachts durchzuschlafen.

Diese Entdeckung hat vor einigen Jahren der US-amerikanische Sozialhistoriker Robert Ekirch gemacht. 2001 veröffentlichte er einen Aufsatz, in dem er seine Recherchen zu Schlafgewohnheiten vor der Industralisierung zusammenfasste. Das zentrale Ergebnis: Die Menschen im Mittelalter, aber auch teils schon weit davor, praktizierten einen "biphasischen Schlaf". Das heißt, dass sie zwischen zwei Schlafphasen mitten in der Nacht stundenlang wach waren.

Im Mittelalter wachten die Menschen mitten in der Nacht auf

Anhand von historischen Aufzeichnungen konnte Ekirch beschreiben, wie diese Schlafgewohnheiten grob aussahen. Demnach gingen die meisten Menschen etwa gegen 21 Uhr ins Bett (auch wenn sich der größte Teil der Bevölkerung kein solches leisten konnte) und wachte nach einigen Stunden – etwa um Mitternacht – wieder auf. Dann folgte eine längere Wachphase, die für alle möglichen Aktivitäten genutzt wurde, stellt Ekirch dar: Gebete, Gespräche, Vergnügen, auch Verbrechen im Schutze der Dunkelheit. Für gewöhnlich dauerte dieser Abschnitt einige Stunden lang.

Dann folgte eine zweite Schlafphase, der sogenannte "Morgenschlaf". Dieser dauerte meistens bis zum Morgengrauen, wenn die Menschen durch das Tageslicht wach wurden und ihrer Arbeit nachgingen. An Wecker war schließlich noch nicht zu denken. Wann genau die Menschen wieder aufstanden, hing auch davon ab, wann sie zu Bett gegangen waren – also wann sie ausgeschlafen hatten. Diese Praxis war laut Ekirch weit verbreitet: Der Historiker fand Hinweise darauf in mittelalterlichen Quellen (die bekannteste davon sicherlich der Roman "Don Quijote" von Miguel de Cervantes aus dem Jahr 1605), aber auch in Texten aus dem antiken Rom und Homers "Odyssee".

Durchschlafen ist eine relativ junge Erfindung

Für Jahrhunderte, wenn nicht sogar noch länger, gehörte es also zum guten Ton, seinen Schlaf in zwei Teile zu splitten. Große Ausführungen dazu finden sich laut Ekirch in den Quellen nicht: "Die Menschen dieses Zeitalters brauchten dafür keine Erklärung. Diese Vertrautheit zeigt aber natürlich auch, wie verbreitet die Gewohnheit war." Insgesamt kam man damals auf etwa sechs bis acht Stunden Schlaf pro Nacht – also vergleichbar mit heute.

Dennoch sehen die Schlafgewohnheiten unserer Zeit ganz anders aus. Durchschlafen gilt als gesund und erstrebenswert – dabei handelt es sich dabei um eine eher moderne Erfindung. Doch wie kam es zu diesem Paradigmenwechsel? Verändert haben sich vor allem zwei Dinge: der Zeitpunkt des Einschlafens und die Art des Aufwachens. Entscheidend dafür waren die gesellschaftlichen und technischen Umwälzungen der Industriellen Revolution.

Elektrisches Licht und der Wecker verändern die Gewohnheiten

Künstliche Beleuchtung machte es möglich, am Abend länger wachzubleiben. Jahrhundertelang regelte das Tageslicht den Tagesablauf: Wurde es dunkel, war es Schlafenszeit. Das änderte sich zuerst durch die Verbreitung von Gaslampen, spätestens aber mit der Erfindung der Glühbirne Ende des 19. Jahrhunderts. Was sich allerdings nicht oder nur geringfügig änderte, war die Zeit des Aufstehens. Diese wurde immer noch weitgehend von der Arbeit vorgegeben, die sich wiederum an den Tageszeiten orientierte. Auch bei der individuell benötigten Schlafzeit gab es nur wenig Spielraum. Die große Revolution des Aufwachens stellte dann wiederum die Erfindung des Weckers, von dem bereits Ende des 18. Jahrhunderts erste Versionen existierten, dar. Es war damit ebenso möglich wie geboten, zu einer bestimmten Zeit aufzustehen. Den Menschen blieb schlicht keine Zeit mehr, um mitten in der Nacht wach zu sein, wollten sie am Morgen fit sein.

Ein weiterer plausibler Grund für die Veränderung des Schlafrhythmus ist, dass es die Voraussetzungen heute in der Regel deutlich besser sind, um durchzuschlafen. Die Schlaflager waren für die meisten Menschen in der Geschichte normalerweise eher unbequem, viele Personen teilten sich einen Raum. Kälte oder Hitze störten die Nachtruhe. Und Forschende vermuten, dass das Aufwachen mitten in der Nacht auch ein Schutzmechanismus war, um sich gegen drohende Gefahren abzusichern – etwa von Tieren oder Verbrechern. Diese Faktoren spielen irgendwann kaum noch eine Rolle.

"Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der zweite Schlaf praktisch verschwunden", berichtet Historiker Ekirch. Was allerdings nicht heißt, dass das so bleiben muss. Schlafexperimente zeigen, dass Menschen von sich aus durchaus zu biphasischem Schlaf neigen. Der Schlafforscher Thomas Wehr gestand Probanden in einem Versuch nur zehn statt normalerweise 16 Stunden Licht – egal ob künstlich oder natürlich – zu. Den Rest der Zeit verbrachten sie in vollkommener Dunkelheit. Tatsächlich dauerte es nur vier Wochen, bis die Versuchspersonen ihren Schlaf in zwei Phasen teilten, mit einer Unterbrechung von ein bis drei Stunden.

Quellen: "Roger Ekirch: In der Stunde der Nacht – eine Geschichte der Dunkelheit" / "Roger Ekirch: Sleep we have lost: pre-industrial slumber in the British Isles" / "BBC" / "Thomas A. Wehr: "In short photoperiods, human sleep is biphasic"

Dieser Artikel erschien ursprünglich bei stern.de.

epp/stern

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