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"Irgendwann hörst du auf, die Toten zu zählen" - eine Bergretterin erzählt

Bergretterin erzählt: "Irgendwann hörst du auf, die Toten zu zählen": Regina Poberschnigg
© Philipp Horak
Sie riskiert ihr Leben für die, die Warnungen ignorieren, sich überschätzen, abstürzen oder sich verirren. Wie geht man damit um? Ein Tag mit Regina Poberschnigg, ehrenamtlicher Bergretterin in Tirol.

"Du weißt, dass du da nichts verloren hattest?" Regina Poberschnigg fixiert einen Mittzwanziger, der auf einer Holzbank die Beine von sich streckt. Die Feuchte des Schnees hat das graue Leder seiner Bergschuhe schwarz gefärbt. Schnee vom Zugspitzgipfel, 2962 Meter über dem Meeresspiegel. An klaren Tagen reicht der Blick von dort oben bis zum Großglockner und Ortler. Doch so ein Tag ist dieser Freitag im Juni 2019 nicht. Meteorolog*innen warnen vor schwerem Gewitter. Wenn es so weit kommt, prallt der Gipfelblick gegen eine weiße Wand, 20, 30 Meter, dann endet die Welt.

Frauen, insbesondere Mütter, tun sich die Bergrettung kaum an.

Regina Poberschnigg, 56, ist ehrenamtliche Bergretterin. Als eine der wenigen Frauen rettet sie die, die Warnungen ignorierten, sich verirrt haben, abgestürzt sind, verschüttet wurden. Sie leitet die Bergrettung Ehrwald in Tirol, einem Dorf am Fuß der Zugspitze, auf der österreichischen Seite des Bergs. "Frauen, insbesondere Mütter, tun sich die Bergrettung kaum an", erzählt sie. Es frisst Zeit. Rund zehn Stunden pro Woche kosten allein Planung und Dokumentation, dazu kommen fixe Dienste und Akuteinsätze.

Rund 60 Bergretter listet Ehrwald auf, neben Poberschnigg nur noch eine weitere Frau, im Rest Tirols sieht es nicht viel anders aus. Auch weil es noch Vorurteile gibt. Für Poberschniggs früheren Partner etwa war ihr Ehrenamt schon ein Problem: dass sie, die Frau, auch bei Schnee, Regen oder mitten in der Nacht auf den Berg geht und der Mann bleibt allein zu Hause. Momentan ist sie Single, Kinder hat sie keine.

Nun nestelt die Bergretterin an dem Funkgerät, das aus ihrer roten Bergretterjacke ragt. Noch schweigt es. Poberschnigg spricht mit Kletter*innen und Wander*innen: Wo kommst du her? Wo willst du hin? Was hast du für Material? Präsenz zeigen, nennt sie diese Gespräche. Poberschnigg ist eine, die gut mit Menschen kann, sie scherzt und lobt, das kommt an.

Doch jetzt ist sie fuchsig. "Das war russisches Roulette", sagt sie zu dem jungen Mann mit den nassen Schuhen, der am Zugspitzmassiv mehrere Schneefelder querte, zwar mit Steigeisen, aber ohne Pickel, und trotz Gewitterwarnung über einen Klettersteig auf den Gipfel stieg. Beides ist lebensgefährlich. An manchen Stellen fallen die Schneefelder mehrere 100 Meter ab, und wer auf Eis abrutscht, kann sich pickellos kaum halten. Drahtseile von Klettersteigen werden bei Blitzen eine tödliche Gefahr.

Die Gespräche sind Poberschniggs Versuch, dem Leichtsinn ein Schnippchen zu schlagen. Wie nötig das ist, weiß sie gut. Sie ist in den Bergen aufgewachsen, der Großvater Bürgermeister, der Vater Zimmerer, als älteste von vier Mädchen. Schon als Kind wanderte sie auf Dreitausender, inzwischen ist sie seit 20 Jahren bei der Bergrettung.

Immer mehr Menschen zieht es in die Alpen

Doch die Bergwelt veränderte sich in dieser Zeit. Dr. Karl Gabl ist Präsident des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit und sagt, dass es seit wenigen Jahren eine fast schon irrsinnige Lust auf den Berg gebe. Immer mehr Menschen zieht es in die Alpen, die Bergdörfer leben gut davon. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass insbesondere in den Sommermonaten die Arbeit der Bergretter*innen extrem zugenommen hat. Rückten Poberschniggs Leute noch im Sommer 2015 rund 40-mal aus, hatten sie in den Sommermonaten 2017 und 2018 jeweils doppelt so viele Einsätze, rund 80.

An anderen Orten ist es nicht anders. "Viele sind fit und top ausgerüstet, aber sie kennen die Gefahr der Berge nicht", sagt Gabl. Lawinen-Airbags, Steigeisen und eine teure Kletterausrüstung vermitteln ein Gefühl der Sicherheit. Aber das kann trügerisch sein. Man muss das Material beherrschen, doch nur eine Minderheit lässt sich schulen. Und noch etwas sagt Gabl:

Tod und Leichtsinn am Berg sind männlich.

2018 starben in Österreich 230 Männer am Berg – und 38 Frauen. Nicht nur, weil mehr von ihnen unterwegs sind. "Männer juckts stärker", sagt Poberschnigg. Viele suchen den Kick, sie gehen ein höheres Risiko ein.

Bergrettung ist ein Ehrenamt

Der Himmel ist an diesem Freitagvormittag immer noch blau. Poberschnigg sitzt jetzt im Büro ihrer Ski- und Bergsportschule in Ehrwald und plant mit ihrem Geschäftspartner Peter die Touren der kommenden Tage. Bergrettung ist in Deutschland und Österreich ein Ehrenamt, im Hauptberuf ist Poberschnigg als Guide unterwegs, und sie vermietet Appartements.

Am Tag zuvor hat sie die Touren auf die Zugspitze abgesagt. Wie so häufig stieß sie damit auf Unverständnis und bei manchen auf blanke Wut. Die Touristen sehen den Sonnenschein und den grünen Talkessel, mehr nicht. "Dass oben nach dem extremen Winter noch Schneefelder lauern und das Risiko unkalkulierbar machen, verstehen manche nicht", erzählt Poberschnigg.

Was macht es mit den Retter*innen, wenn sie Menschen vom Fels holen, teils unter hohem persönlichem Risiko? Warum tun sie sich das an? "Ich bin ein bisschen eine Hexe", flüstert Poberschnigg. Sie ziehe Unfälle an. Als sie den verdutzen Gesichtsausdruck ihres Gegenübers sieht, lacht sie laut. Dass sie viel lacht, verraten auch die feinen Fältchen um ihre Augen. Sie sei die, die halt helfen muss, ob das besser klinge?

Früher arbeitete sie nur als Guide in den Bergen, dabei stieß sie so häufig auf Unfälle, dass einige Ehrwalder auf die Idee kamen, sie mit einem Funkgerät der Bergretter auszurüsten, damit sie nicht wie damals üblich über die Hütten Alarm rufen musste. Das war Ende der 1990er – und für viele ein Unding: Frauen und Bergrettung? Wo kämen wir denn da hin?!

Poberschnigg grinst breit, als sie erzählt, wie es weiterging: Die Bergrettung änderte – nach einer verlorenen Abstimmung und ziemlichem Widerstand – ihr Statut. Bis dato war die Bergrettung Frauen nämlich verboten. Poberschnigg erhielt ihr Funkgerät.

Nach einem schlimmen Einsatz geht sie in die Kneipe, auf ein Bier und drei Schnäpse

"Ich bin aber auch bei der Bergrettung, weil ich – warum auch immer – Schlimmes sehen und aushalten kann", sagt sie. Bis vor zwei Jahren war sie bei der Hubschrauberrettung. "Irgendwann habe ich aufgehört, die Toten zu zählen." Ein menschlicher Körper aber, der 50, 100, vielleicht auch 300 Meter tief stürzt, bleibt nicht ganz. Poberschnigg geht nach einem schweren Einsatz mit ihren Leuten auf ein Bier und drei Schnäpse in die Kneipe. Und sie arbeiten mit einem Kriseninterventionsteam zusammen.

Es geht zum Parkplatz. Poberschnigg, blond und braun gebrannt, hievt Rucksack, Helm und Kletterausrüstung von der Rückbank ihres Jeeps in den weiß-grünen Landrover der Bergretter. Ihre Grundausrüstung hat sie immer im Auto. Einen Notruf kann es überall geben, es zählt dann jede Minute. Am Spiegel ihres Jeeps baumelt ein Rosenkranz. Sie startet den Motor. Sie will hoch zum Seebensee. Eine Warntafel soll umgestürzt sein, beim Einstieg in den Taja-Klettersteig, so meldete es gestern ein Wanderer den Bergretter*innen. Der Landrover ruckelt auf einem schmalen, kurvigen Forstweg bergauf. Man muss Zeit mitbringen, wenn man mit Poberschnigg unterwegs ist, ein "Hallo, Schatzi!" hier, ein "Hallo, Schatzi!" da, "Wie geht’s dir, bald einen Kaffee, ja?". Die Bergretterin kennt den halben Berg, der anderen Hälfte winkt sie fröhlich zu.

Nach einer Dreiviertelstunde stoppt sie den Geländewagen. Die Tafel, die auf die Schwere des Steigs verweist und die Route nur extrem erfahrenen Kletter*innen empfiehlt, liegt zerdeppert am Boden. Poberschnigg macht Fotos. Vor wenigen Tagen beobachtete sie, wie ein Kletterer schon im Einstieg massiv kämpfte. Sie forderte ihn auf, die Tour abzubrechen. "Wieso, ihr holt mich doch eh raus", rief er ihr zu und kletterte weiter. "Das machen wir natürlich, aber manchmal sind die Menschen dann tot", sagt Poberschnigg lapidar. Allein in den vergangenen zwei Wochen holten sie und ihr Team 15 Kletter*innen aus dem Taja. Die breite Mehrheit unverletzt, sie kamen schlicht keinen Fußbreit weiter, weder vor noch zurück.

Wen retten wir, wen nicht? Diese Frage stellt sich Poberschnigg nicht

Manche, auch in ihrem Dorf, sagen, dass sie die Leichtsinnigen nicht bergen sollten. Poberschnigg sieht es anders. "Klar dampfe ich vor Wut, wenn Übermut und Egoismus das Hirn lahmlegen", verrät sie und plädiert für empfindliche Geldstrafen, wenn Menschen Warnungen ignorieren und beispielsweise auf gesperrten Wegen wandern. "Aber wer bin ich, dass ich sagen könnte: Den retten wir, den nicht? Wer so denkt, hat bei der Bergrettung nichts verloren." Zumal Leichtsinn und Pech in den Bergen oft nah beieinanderliegen.

Zügigen Schritts geht die Bergretterin zurück zum Landrover. Und wo lässt sie ihre Wut? Poberschnigg deutet zurück zum Taja-Steig. Eine Familie, Vater, Mutter, zwei Jungs, 12 und 14 Jahre, überraschten dort Hagel und Blitze. Wenn man Menschen, denen man das Leben gerettet hat, in die Augen blicke, sagt sie, sei da kein Platz mehr für Wut – nur unendliche Erleichterung. Manchmal schicken Gerettete noch Jahre später Weihnachtskarten.

"Was aber reinmuss in die Köpfe: Wir Retter brauchen manchmal Stunden, bis wir da sind. Wir gehen manchmal Risiken ein, aber wir riskieren nie unser Leben. Konkret: Wir brechen Einsätze auch ab."

Die Familie harrte zwei Stunden im Steig aus und hatte enormes Glück: Alle vier überlebten fast unverletzt. Poberschnigg lehnt am Landrover. Der Seebensee ist so schön, dass einem das Herz pumpert, tiefblaues Wasser, umrahmt von Tajakopf, Drachenkopf und Sonnenspitze, ein Paradiespanorama. Als junge Frau, erzählt die Bergretterin, habe sie wenige Jahre als Bürokauffrau gearbeitet, doch schnell sei ihr klar geworden: Sie braucht den Himmel und den Fels.

Notruf eines deutschen Ehepaars - hier helfen Trost und Zuspruch

Bergrettung Ehrwald, Samstag, 8 Uhr morgens. Der Notruf kam vor einer Stunde, inzwischen sind Poberschniggs Leute im Zugspitzmassiv. Sie koordiniert den Einsatz vom Tal aus. Das Unwetter überraschte am Freitagabend ein deutsches Ehepaar, irgendwie schafften sie es unverletzt auf eine Hütte, doch die Panik blieb. Die Frau zittert, weint, will und kann nicht erneut auf die Schneefelder, sagt sie. Es ist der einzige Weg ins Tal. Poberschnigg spricht in ihr Smartphone, tröstet, beruhigt, informiert: "Ein bisschen musst du noch durchhalten, dann sind die Jungs da."

Zwei Stunden später ist sie wieder am Smartphone und lacht. Das Ehepaar sei unverletzt und sicher im Tal angekommen – und wandere nun zum Eibsee. Eine einfache, keine hochalpine Tour, absurd ist das alles trotzdem. 1586,17 Euro kostete die Rettung, drei Stunden band sie elf Bergretter*innen. Regina Poberschnigg tippt das Einsatzjournal, dann steht sie auf. In wenigen Stunden reisen Gäste an, sie muss noch Appartements putzen.

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