Anzeige

Arme Familien So sehr leiden die Kinder

Arme Familien: Mädchen lehnt traurig an Wand
© Radharani / Shutterstock
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm. Das ist nicht nur ein Skandal, sondern hat negative Folgen für unsere Gesellschaft, sagt Bildungsexpertin Anette Stein.

BRIGITTE: Frau Stein, was bedeutet Kinderarmut in einem der reichsten westlichen Industrieländer?

Es bedeutet, dass die Kinder vom gesellschaftlichen, vom sozialen Leben vielfach ausgeschlossen sind. Es bedeutet, dass sie nicht mit auf Klassenfahrten können, weil kein Geld dafür da ist; dass sie Freund*innen kein Geburtstagsgeschenk machen oder sie nicht nach Hause einladen können, weil die Wohnung das nicht hergibt. Arme Kinder können ihre Begabungen, ihre Interessen und Neigungen nicht ausleben, sie leben eigentlich tagtäglich damit, beschränkt zu werden. Wo andere Eltern aus Erziehungsgründen Nein sagen, tun es arme Eltern aus der Not heraus.

Es gibt ja auch dieses von einigen Privatfernsehsendungen befeuerte Klischee von der dysfunktionalen Familie, in der zwar Geld für Hundefutter, Alkohol und Zigaretten ausgegeben wird, aber kaum etwas für den Nachwuchs. Ist da was dran?

Mich ärgert das Vorurteil, denn die meisten armen Haushalte sind Leute mit niedrigen Einkommen, Minijobber, arbeitende, alleinerziehende Mütter. Und der allergrößte Teil derer geht verantwortungsvoll mit seinem Geld um, hat aber einfach zu wenig. Es ist eben auch sehr schwer, aus Armut, in die man hineingeboren wurde oder in die man hineingerutscht ist, wieder herauszukommen. Und oft kommt staatliches Geld nicht da an, wo es wirklich gebraucht wird.

Wie meinen Sie das?

Geld für ihre Kinder wird bedürftigen Eltern ja nicht einfach so überwiesen; man muss es beantragen, die Bedürftigkeit nachweisen. Aber nur 34 Prozent derer, die einen Anspruch darauf hätten, machen das auch, weil es total kompliziert ist. In unserem Fördersystem blickt kaum noch einer durch. Und Erhöhungen des Kindergeldes werden bei Hartz-IV-Beziehenden angerechnet, beziehungsweise abgezogen.

Wenn ein Kind in Armut groß wird, wie wirkt sich das auf sein weiteres Leben aus?

Wir wissen aus allen Studien seit Jahrzehnten, dass Armut das größte Entwicklungsrisiko für Kinder und Jugendliche ist. Sie beeinträchtigt Gesundheit, Wohlbefinden, Psyche und Bildung. Lehrer*innen empfehlen armen Kindern, lieber auf eine Haupt-, Gesamt- oder Realschule statt aufs Gymnasium zu gehen. Sie wissen, dass am Gymnasium viel gefordert wird und eine der Voraussetzungen für den Erfolg die Begleitung durch das Elternhaus ist. Diese aber ist bei armen Familien oftmals nicht gegeben.

Welche Erkenntnis Ihrer Studie hat Sie am meisten überrascht?

Dass die Erfahrung dieser Kinder mit Mobbing und Gewalt sehr hoch ist, war erschreckend. Aber wir haben auch Positives entdeckt. Wir haben Kinder und Jugendliche selbst dazu befragt, was sie brauchen, um gut aufwachsen zu können. Und wer jetzt denkt, dass da nur kam, dass sie ein Smartphone oder neue Sneaker brauchen, irrt gewaltig. Die Kinder können sehr genau benennen, was ihnen wirklich fehlt, nämlich soziale Teilhabe. Sie wollen nicht ausgegrenzt sein. Natürlich wünschen sich Ältere auch ein Smartphone, weil sie sich sonst auch ausgeschlossen fühlen. Aber es muss nicht das neueste Modell sein.

Was fordern Sie von der Politik? Welche Länder machen es besser als wir?

Die Politik muss sich endlich entscheiden, wie sie Kinderarmut auf Dauer vermeiden will. Seit Jahren gehen die Zahlen nicht zurück, durch die Corona-Krise werden sie noch wachsen. Das hat auch negative Folgen für die gesamte Gesellschaft. Auch diese Kinder sind die Zukunft dieses Landes. Wir brauchen dringend neue sozial- und familienpolitische Konzepte. Dazu gehören Strukturen für eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und eine Absicherung ihrer finanziellen Bedarfe durch ein Teilhabegeld oder eine Grundsicherung. Und was andere Länder betrifft: Da geht der Blick natürlich Richtung Skandinavien. Dort ist das Problem der Kinderarmut gering. Das liegt einerseits an den familienpolitischen Strukturen, aber auch am Bildungssystem. Mit dem wird die soziale Spaltung nicht befördert. Daran sollte sich Deutschland ein Beispiel nehmen.

Anette Stein ist Direktorin des Programms "Wirksame Bildungsinvestitionen" bei der Bertelsmann Stiftung, die 2020 eine umfangreiche Studie zur Kinderarmut herausgegeben hat: "Kinderarmut – eine unbearbeitete Großbaustelle".

Kinderarmut in Deutschland

  • Jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Das sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
  • Arm ist demnach, wer über so wenig Einkommen bzw. Besitz verfügt, dass es nicht möglich ist, den Lebensstandard zu haben, der in unserer Gesellschaft als selbstverständlich bzw. normal gilt.
  • Besonders von Armut betroffen sind Kinder, die in alleinerziehenden Familien groß werden, die Hartz IV beziehen: 45,2 Prozent.
  • Insgesamt beläuft sich die Zahl der Kinder, die in Familien mit Hartz-IV-Bezug leben, auf 13,8 Prozent.
  • Trotz positiver wirtschaftlicher Entwicklung in Deutschland ist seit Jahren keine Besserung in Sicht, die Kinder- und Jugendarmut verharrt auf gleichbleibend hohem Niveau.

Quelle: Bertelsmann Stiftung

Holt euch die BRIGITTE als Abo - mit vielen Vorteilen. Hier könnt ihr sie direkt bestellen.

BRIGITTE 13/2021 Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel