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Arche-Gründer: "Gewalttätige Eltern sind meine größte Sorge"

Arche-Gründer: "Gewalttätige Eltern sind meine größte Sorge"
© VGstockstudio / Shutterstock
Der Arche-Gründer Bernd Siggelkow kümmert sich auch in der Corona-Krise weiterhin um Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen. Er befürchtet: Dauern die Beschränkungen an, wird die häusliche Gewalt neue Ausmaße annehmen.

Am schwersten fällt es Bernd Siggelkow, die Kinder nicht zu umarmen. Sie verstehen nicht, warum er auf einmal Abstand zu ihnen hält, sie nicht mehr zur Begrüßung an sich drückt. Für viele ist er ihre wichtigste Bezugsperson. Jetzt stellt er nur noch Einkäufe vor der Tür ab und geht. Die Kinder beginnen zu weinen. "Bei mir fließen dann auch Tränen. Ich fühle mich wie ein Verbrecher. Viele dieser Kinder kenne ich schon seit ihrer Geburt", sagt Siggelkow.

Vor 25 Jahren hat Bernd Siggelkow die Arche gegründet, eine Einrichtung für Kinder, die in sozial schwachen Familien aufwachsen. Einige Eltern kannte er schon, als sie selbst noch Kinder in der Arche waren. Armut und schwierige Familienverhältnisse bleiben oft über Generationen hinweg bestehen. In Deutschland leben laut der Bundesagentur für Arbeit fast zwei Millionen Kinder in Hartz-IV-Haushalten. Normalerweise kommen Kinder von 14 bis 18 Uhr in die Arche, spielen und lernen hier. Doch wegen der Corona-Krise mussten die 25 Standorte der Arche in Deutschland schließen. Siggelkows Arbeit ist dadurch nicht weniger geworden, sondern mehr.

"Wenn die Kinder nicht zu uns kommen können, kommen wir eben zu den Kindern", sagt er. Seine Mitarbeiter und er kaufen unter den gebotenen Hygienevorschriften für die Familien ein und liefern ihnen die Einkäufe. Dass die Kinder zu wenig und ungesund essen, ist eine von Siggelkows Sorgen. "Meine größte Sorge aber sind gewalttätige Eltern."

"Das erste, was ich morgens mache, ist in der Zeitung nach Hinweisen auf häusliche Gewalt zu suchen"

Zehntausende Kinder werden in Deutschland jedes Jahr Opfer von Gewalt und Missbrauch. Das belegen Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik. Nirgendwo kommt es dabei zu so viel Gewalt wie im häuslichen Raum, doch verlässliche Statistiken dazu gibt es nicht. Laut einer Befragung 2013 von 900 Kindern aus armen Verhältnissen gehörte für knapp ein Viertel Gewalt zum Alltag.

"Das erste, was ich morgens mache, ist in der Zeitung nach Hinweisen auf häusliche Gewalt zu suchen. Weil ich solche Angst habe, dass einem der Kinder etwas passiert sein könnte", sagt Siggelkow. Findet er nichts, ist er erleichtert. Zumindest bis zum nächsten Morgen. 

Damit es gar nicht erst so weit kommt, wird das Team der Arche kreativ. Sie lassen sich Beschäftigungen für die Kinder einfallen. Challenges, die sie online posten, Rezepte, die sie mit ihren Eltern backen sollen. Denn das Schlimmste sei, wenn die Familien nicht mehr beschäftigt sind. Wenn die Langeweile bei Kindern und Eltern so groß werde, dass sie aggressiv und dadurch möglicherweise gewalttätig werden. "Erschwerend kommt hinzu, dass die Eltern gerade vor Herausforderungen stehen, die sie nicht meistern können", sagt Siggelkow. "Die Eltern unserer Arche-Kinder können sich aus verschiedenen Gründen oft nicht einmal in normalen Verhältnissen um sie kümmern. Wie soll das dann erst unter erschwerten Bedingungen funktionieren? Mit Home Schooling? Das wird nicht funktionieren und die Bildung der Kinder wird darunter noch mehr leiden als ohnehin schon."

"Wir sind gerade dabei, die Schwächsten in unserer Gesellschaft noch weiter abzuhängen"

Um das zu verhindern, helfen die Arche-Mitarbeiter den Kindern bei den Hausaufgaben, die sie an ihren Schulen bekommen haben. Doch auch da gibt es Probleme. "Vieles ist online verfügbar, doch nicht alle Kinder haben einen Laptop", sagt Siggelkow. "Andere Kinder besuchen Schulen in Problembezirken, bei denen gar nichts online ist. Und auch das ist schwierig. Denn die Aufgabenzettel, die sie mitbekommen haben, werden nicht bis nach Ostern reichen. Und was, wenn die Krise dann noch immer nicht überstanden ist? Wir sind gerade dabei, die Schwächsten in unserer Gesellschaft noch weiter abzuhängen."

Der Arche-Gründer versucht nun, allen Kindern einen Laptop zu beschaffen. Wie, das wisse er noch nicht genau, nur dass es ihm am Ende gelingen werde, "wie immer". Haushalte, die möglicherweise noch unbenutzte alte Laptops und Handys rumliegen haben, bittet er, sie an die nächste Arche in ihrer Umgebung zu spenden. Haben die Kinder einen Laptop oder ein Smartphone, können die Mitarbeiter in Video-Chats mit ihnen sprechen, ihnen dadurch besser helfen und einschätzen, ob es ihnen gut geht. Viele Eltern und Kinder wüssten gerade gar nicht, was um sie herum geschieht.

"Wir haben die Ansprache von Angela Merkel in alle Sprachen übersetzen lassen und den Flüchtlingsfamilien per WhatsApp geschickt. Damit sie nicht befürchten müssen, dass in Deutschland der Krieg ausgebrochen ist, weil niemand mehr auf den Straßen, aber überall die Polizei ist", sagt Siggelkow. Aber es sind nicht nur Flüchtlingsfamilien, die nichts von der Corona-Krise mitbekommen.

"Die Familien, die wir betreuen, schauen sich keine Merkel-Reden an, sie schauen überhaupt keine Nachrichten, sie schauen das Nachmittagsprogramm der Privatsender. Das sind die Kanäle, auf denen man sie erreichen muss", sagt er. "Es wäre so hilfreich, wenn jeder Privatsender einfach eine Nummer einblenden würde, an die man sich bei häuslicher Gewalt wenden kann. Aber das macht keiner." 

Siggelkow ist an der Stimme anzuhören, dass er wirklich Angst hat. Davor, "dass einer Mama mal der Kochlöffel ausrutscht" oder "der Papa mal nach dem Kind tritt". Weil es gar nicht anders gehe, sagt er, bei Familien, die ohnehin in schwierigen Verhältnissen leben und von heute auf morgen auf engstem Raum ungewohnt viel Zeit miteinander verbringen. "Im schlimmsten Fall werden die Nachbarn die Polizei rufen und die Kinder werden aus den Familien genommen. So weit dürfen wir es nicht kommen lassen." 

Wenn Sie selbst Hilfe benötigen, finden Sie diese zum Beispiel beim Hilfetelefon des Bundesamts für Familie oder beim Weißen Ring.

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Sie können Menschen, die gerade besonders schwer von der Corona-Krise betroffen sind, auch mit einer Spende helfen. Die Stiftung stern leitet Ihr Geld an ausgewählte Hilfsprojekte weiter. IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01; BIC DEUTDEHH; Stichwort: Corona-Solidarität; www.stiftungstern.de

Dieser Artikel ist ursprünglich auf stern.de erschienen.

Amelie Graen

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