Anzeige

Tote in Halle: Woher kommt Antisemitismus und wie kann ich reagieren?

Tote in Halle: Woher kommt Antisemitismus und wie kann ich reagieren?
© Jens Schlueter / Freier Fotograf / Getty Images
In Halle hat ein offenbar rechtsradikaler Mann eine Synagoge angegriffen und zwei Menschen getötet. Die Autorin Franzi von Kempis erklärt in ihrem neuen Buch, woher Judenhass kommt – und wie wir reagieren können, wenn wir Zeuge werden.

Ein Neonazi greift eine Synagoge an, erschießt zwei Menschen und verletzt weitere. Angetrieben wurde er offenbar von Judenhass. Doch woher kommt dieser Hass? Und was können wir tun, wenn wir Zeugen von Antisemitismus werden?

Die Journalistin Franzi von Kempis sagt: "Es gibt in unserer Gesellschaft eine große Mehrheit von Menschen, die für die liberale Demokratie einstehen und extreme Haltungen ablehnen. Ich möchte, dass wir lauter werden." Deswegen hat sie ein beeindruckendes Buch mit dem Titel "Anleitung zum Widerspruch" geschrieben (Mosaik-Verlag, 288 Seiten, 15 Euro).

In ihrem Buch beleuchtet sie Themen, die immer wieder von Radikalen und Populisten geentert und zu denen wildeste Parolen geschwungen werden – Themen wie den Klimawandel, Gleichstellung und Fremdenhass. Eines der sechs Oberthemen ist auch Antisemitismus. Hier lest ihr von Kempis' Einordnung des Themas – und Tipps, wie ihr reagieren könnt, wenn ihr im Alltag Zeugen von Judenhass werdet:

Was ist Antisemitismus?

Judenfeindlichkeit, Diskriminierung von Juden – warum werden Juden (von manchen Menschen) gehasst? Warum immer gegen "die Juden"? "Das ist doch diese Sache aus dem Zweiten Weltkrieg, das haben die Nazis erfunden." Man könnte meinen, dass wir hierüber nicht mehr diskutieren müssten, dass Antisemitismus in Deutschland, gerade wegen des Holocaust und einer großen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung dazu, kein Thema mehr ist.

Aber: Juden werden immer noch diskriminiert, jeden Tag, überall auf der Welt. Trotz Beweislast wird der Holocaust relativiert. Und es werden historische Schlussstriche gefordert. Darum müssen wir uns mit Antisemitismus beschäftigen. Weil es ihn immer noch gibt. Weil er eher zu- als abnimmt.

Laut einer Studie der TU Berlin hat die Hetze gegen Juden allein im Netz in den letzten Jahren massiv zugenommen. Die Untersuchung zeigt, dass antisemitische Äußerungen zwischen 2007 und 2017 von 7,5 Prozent auf über 30 Prozent stiegen (untersucht wurden mehrere Hunderttausend Texte und Kommentare im Netz). 12 Prozent der Fälle relativieren den Holocaust oder zweifeln ihn an.

Ein altes Problem

Judenfeindlichkeit ist alt. Wirklich sehr alt. Wer den Antisemitismus von heute verstehen will, muss verstehen, wie weit er zurückgeht. Wie lange es ihn schon gibt. Und was er alles überdauert hat, weil Menschen immer wieder neue Wege fanden und finden, ihn ins nächste Jahr, Jahrzehnt, Jahrhundert zu übersetzen.

Hier sind sehr alte Mechanismen am Start, die unter anderem etwas mit den Römern, einer kleinen jüdischen Sekte und ganz bestimmten Berufsgruppen zu tun haben. Warum sind immer die Juden dieser Diskriminierung, diesen Vorurteilen ausgesetzt? Es kann keine finale Antwort auf diese Frage geben, wir können aber lernen, sie besser einzuordnen – um uns und andere mit diesem Wissen zu schützen.

Wer in Deutschland an Antisemitismus denkt, der denkt meist zuerst an Nazis, das »Dritte Reich«, Adolf Hitler. Verständlich, doch das erklärt nicht, was Antisemitismus genau ist. "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Das ist die Definition der Bundesregierung aus dem Jahr 2017.

Wer bestimmt, was "jüdisch" ist?

Antisemitismus bedeutet also: Hass bzw. Feindschaft gegenüber vermeintlich jüdischen Personen. "Vermeintlich" ist deshalb wichtig, weil dem Antisemitismus eine Sache sehr eigen ist: Antisemitinnen und Antisemiten bestimmen, wer oder was für sie jüdisch ist. Denn: Man sieht es Menschen jüdischen Glaubens ja nicht an, dass sie jüdisch sind – diese Art der Rassenlehre ist längst abgeschafft und strafbar, falls sie dennoch angewendet wird.

Antisemitinnen und Antisemiten haben bestimmte Vorstellungen, was "typisch jüdisch" ist oder wie für sie "typisch jüdisch" auszusehen hat. Sie ordnen Personen bestimmte Stereotype zu und legen für sich selbst fest, was "jüdisch" ist. Der Begriff "Antisemitismus" existiert erst seit dem 19. Jahrhundert. Ihm ging über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg der religiös motivierte Judenhass, der sogenannte Antijudaismus, voraus.

Bis im 19. Jahrhundert das Konzept der Rasse und damit des Rassismus entwickelt wurde und der Begriff »Antisemitismus« entstand. Übrigens: Der Begriff hat mit Semiten sehr wenig zu tun. Wer so etwas sagt, fällt auf ein grundlegendes Missverständnis herein, was mit dem Begriff eigentlich gemeint ist bzw. war.

Semiten sind nicht gleich Juden. Eigentlich.

Der Ausdruck »Antisemitismus« entstand im Umkreis des Publizisten Wilhelm Marr um das Jahr 1879. Kurz und knapp: Antisemitismus bedeutet quasi "Semitengegnerschaft", mit den "Semiten" meinte man damals aber letztlich nur Jüdinnen und Juden. Eigentlich ist "semitisch" ein Begriff aus der Sprachwissenschaft, mit Semiten sind Angehörige einer gemeinsamen Sprachfamilie aus Nordostafrika bzw. Vorderasien gemeint: Araber, Äthiopier, Akkader, Kanaanäer, Aramäer. 

Im Begriff Antisemitismus sind aber mit Semiten tatsächlich nur Menschen jüdischen Glaubens gemeint. Jüdische Menschen wurden im 19. Jahrhundert also nicht mehr einzig über ihre Religionszugehörigkeit definiert, sondern als Volk, als Nation oder als eigene "Rasse". Ziel war es, die bis dato zumeist religiös verwurzelte Judenfeindschaft mit einem "wissenschaftlichen" Anspruch zu versehen, das Ganze also quasi etwas eleganter zu verpacken.

Im religiös begründeten Antijudaismus spielte dagegen eine potenzielle Bekehrung der Juden immer noch eine Rolle. Jetzt ging es aber darum, antijüdische Vorurteile angeblich wissenschaftlich zu begründen. Das war natürlich völliger Quatsch, den aber leider sehr viele Menschen glaubten. Und auf genau diesem Antisemitismus des 19. Jahrhunderts bauten die Nationalsozialisten einen wesentlichen Teil des ideologischen Konstrukts des "Dritten Reichs" auf.

Die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich in Deutschland dann der sogenannte sekundäre Antisemitismus, das Ressentiment gegen das Holocaust-Gedenken. Oftmals wird der sekundäre Antisemitismus mit der absurden Unterstellung verbunden, Jüdinnen und Juden wollten von diesem Gedenken profitieren.

Das Absurde und zugleich Bemerkenswerte an Antisemitismus: Er ist unglaublich flexibel. Er hat eine sehr alte Geschichte, ist wie ein kulturelles Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Jeder von uns ist imstande, wenn er es wollte aus einem großen historischen Fundus an antisemitischen Stereotypen zu schöpfen, weil der Antisemitismus so alt und divers ist.

Er ist, wie der Historiker und Antisemitismusforscher Uffa Jensen es ausdrückt, "Teil der Grundentwicklung unserer Kultur. Da das Christentum mit dem Judentum als Mutterreligion verbunden gewesen ist, gab es von Anfang an die Tendenz der Ablehnung gegenüber Juden. So haben sich die Menschen daran gewöhnt, dass sie die Juden für alles verantwortlich machen können."

Bei Antisemitismus gilt: Widerspruch ist möglich

Dabei ist grundsätzlich zu beachten: Es ist immer besser, selbst zu verstehen, worauf eine Beleidigung abzielt bzw. worauf sie eigentlich basiert. Warum jemand sie ausspricht oder schreibt. Welche Motivation hinter der Äußerung steckt. Und welches Bild sie damit eigentlich bedient.

Vielen Leuten ist gar nicht klar, was hinter bestimmten »Codes«, also Aussagen, die eigentlich etwas anderes meinen, steckt. Man meint "die Juden", schreibt oder sagt aber etwas anderes.

Wer sich absichtlich antisemitisch äußern will, ist seit 1945 klüger geworden. Etwas "den Juden" vorzuwerfen ist verpönt, versteckte Vorwürfe sind beliebter geworden. Man hat gelernt, dass es gesellschaftlich nicht akzeptabel ist, Jüdinnen und Juden öffentlich abzuwerten, denn dann gilt man als Antisemit – also warnt man zum Beispiel vor Zionismus. Nicht immer sind bestimmte Codewörter leicht zu erkennen, oft sind sie versteckt, meistens uralt, und natürlich sind sich nicht alle, die sie verwenden, dessen überhaupt bewusst. 

Wie reagiert man auf Antisemitismus?

  • Konfrontation
    Wenn man mitbekommt, dass jemand etwas Antisemitisches sagt, sollte man die Person damit konfrontieren. Man sollte immer klarstellen, dass man antisemitische Äußerungen nicht toleriert. Sich zu äußern ist besser, als bestimmte Aussagen stillschweigend im Raum stehen zu lassen.
  • Sich selbst schützen
    Man sollte immer bedenken, wer das Gegenüber ist. Will ich mit der Person diskutieren? Oder will ich einfach nur meine Meinung kundtun, dass mir eine Aussage zu weit geht? 
  • Widerspruch ist wichtig
    Es reicht, auch einfach "Stopp, bis hierhin und nicht weiter" zu sagen. Es genügt zu sagen: "Ich bin anderer Meinung, ich sehe das nicht so." Man kann auch ohne direkte Gegenargumente einen Punkt setzen und gegenhalten.
  • Kritische Nachfrage
    "Was war mit dieser Äußerung wirklich gemeint?", "Woher hast du diese Information?", "Was meinst du damit genau?", "Warum ist dir dieser Punkt so wichtig?"

(aus: "Anleitung zum Widerspruch" von Franzi von Kempis, Mosaik-Verlag, 15 Euro)

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel