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Als Volunteer bei den Special Olympics Eine Woche voller Gänsehautmomente

Special Olympics: Das deutsche Team betritt durch einen Herzbogen aus riesigen Armen das Olympiastation
Willkommen in Berlin: Die Athletinnen und Athleten betreten das Olympiastadion bei der Eröffnungszeremonie durch ein riesiges Herz.
© Special Olympics World Games Berlin 2023 / Tilo Wiedensohler/camera4
Zum ersten Mal fanden in Deutschland die Special Olympic World Games statt – die größte inklusive Sportveranstaltung der Welt. Unsere Kollegin Andrea war als freiwillige Helferin dabei. Jetzt fragt sie sich, wer hier eigentlich das Handicap hat. Über eine Reise, die direkt ins Herz traf.

"Und, wie war's?" Natürlich möchten die Kolleg:innen nach meiner Rückkehr wissen, was ich bei meinem Volunteer-Einsatz erlebt habe. Dafür hatte mein Arbeitgeber mich und weitere 22 Mitarbeiter:innen eine Woche lang freigestellt und nach Berlin entsandt – ein alles andere als selbstverständlicher Beitrag für gelebte Vielfalt, Integration und soziales Engagement, finde ich. Meine Antwort: "Die beglückendste Erfahrung meines Lebens!" Klingt pathetisch, ich weiß. Vor allem aus dem Mund einer Norddeutschen, wie mir. Das kommt davon, wenn man unverhofft in ein lautes, buntes, bezauberndes Feenland versetzt wird, in dem scheinbar flächendeckend Glücksgefühlespender installiert sind und wie eine Sprinkleranlage ihren Inhalt auf die Anwesenden herabrieseln lassen.

Wettbewerbe statt Wettkämpfe

Was ist hier so besonders? Es sind die Menschen. Diese speziellen, die bei den Spielen die Hauptpersonen sind. Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, die mutig ihr Bestes geben. Denn so lautet der Leitsatz der Special Olympics: "Ich will gewinnen, doch wenn ich nicht gewinnen kann, so will ich mutig mein Bestes geben!" Die 7.000 Athletinnen und Athleten aus 190 Ländern treten zwar gegeneinander aber eigentlich vielmehr miteinander in sportlichen Wettbewerben an – Wettkämpfe sind es nicht, auf die Wortwahl wird geachtet! Es geht um Spaß, um Teilhabe, Inklusion. Das wird überall spürbar. 26 Disziplinen sind dabei, wie Leichtathletik, Schwimmen, Rhythmische Sportgymnastik und natürlich zahlreiche Ballsportarten.

Mein Einsatzort ist die Volleyballhalle. Hätte ich es mir vorher aussuchen können, wäre meine Wahl vielleicht auf die Leichtathletik gefallen. Aber zum Glück (das kann ich im Nachhinein sagen) bin ich bei einer Mannschaftssportart gelandet. Denn hier bilden Athletinnen und Athleten gemeinsam mit sogenannten Unified Partners ein Team. Das heißt, es stehen immer drei Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behindertung zusammen mit drei Sportler:innen ohne Beeinträchtigung auf dem Feld. Und darin steckt der ganz besondere Zauber.

Inklusion, was sonst?

Manche Teams sind reine Frauen- oder reine Männermannschaften, aber es gibt auch Mixed Teams. Wer unter ihnen Athlet und wer Partner ist, lässt sich mitunter gleich auf den ersten Blick erkennen, manchmal kann ich nur raten. Unter einer geistigen Behinderung versteht die WHO eine "Intelligenzminderung durch eine verzögerte oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten". Bei den Ursachen handelt es sich häufig um Gendefekte, wie etwa Trisomie 21, dem Down-Syndrom. Aber auch Infektionen, Vergiftungen (zum Beispiel durch Alkoholkonsum) oder schwere Mangelzustände der Mutter während der Schwangerschaft oder unter der Geburt können dazu führen, dass sich die kognitiven und koordinativen Fähigkeiten des Kindes nur bis zu einem gewissen Grad entfalten.

Weil die Einschränkungen so unterschiedlich schwer ausfallen, finden in den ersten beiden Turniertagen sogenannte Klassifizierungsmatches statt. Die Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter beobachten und beurteilen erst einmal nur das jeweilige Leistungsniveau der Teams. So soll sichergestellt werden, dass später, wenn es um die Wurst, also um die Medaillen geht, faire Bedingungen herrschen und sich nur Mannschaften in Gruppen mit vergleichbar starken Beeinträchtigungen am Netz gegenüberstehen.

Special Olympics: Volleyballteam aus Botswana winkt ins Publikum
Ein Gruß ins Publikum: Vor dem Spiel Botswana vs. Vereinte Arabische Emirate.
© Special Olympics World Games Berlin 2023 / Juri Reetz

Hier bekommt also nicht jede:r Teilnehmende einfach am Ende der Übung, wie beim Kindergeburtstag im Vorschulalter, einen Pokal in die Hand gedrückt – es geht durchaus um den Leistungsvergleich unter fairen Bedingungen. Aber um Freude an der eigenen Leistung, nicht um Leistungsdruck – mit ganz wenigen Ausnahmen, wenn doch der Ehrgeiz mal mit einem durchgeht (ich nenne jetzt keine Namen). Aber auch das ist ja nur menschlich und zeigt, dass Inklusion eben mehr ist als Integration und auch heißt, es werden keine Unterschiede gemacht und alle gleich gut oder eben auch mal gleich zickig behandelt. 

Schneller Wischer, echt jetzt?

Wir Volunteers in unserer lila T-Shirt-Uniform werden am Anfang unserer Schichten auf die sechs Volleyballplätze verteilt. Über das, was wir wohl genau zu tun bekommen, haben wir schon auf der Anreise gewitzelt. Sind wir nicht zu alt (oder möglicherweise zu unsportlich bzw. ungeschickt im Umgang mit dem Ball), um als Ballmädchen oder -jungen zu performen? Und muss wirklich jemand von uns mit dem Lappen als Schneller Wischer möglichen Schweißflecken hinterherputzen? Nein, zu alt ist hier niemand und für gar nichts. Von der Schülerin bis zum Rentner ist alles vertreten. Und ja, die Arbeit am Wischmopp macht sogar Spaß! 

Für jedes der sechs Spielfelder werden etwa zwölf Volunteers benötigt, um den reibungslosen Ablauf sicherzustellen – jetzt wundere ich mich nicht mehr über die enorme Zahl von insgesamt 20.000 Ehrenamtlichen für das gesamte Event: Wir holen verschlagene Bälle zurück, bewahren die große Anzeigetafel vor Querschlägern, bedienen das Scoreboard, damit auch alle auf dem Spielfeld und im Publikum den Spielstand erfahren, helfen bei der Resultate-Übermittlung, wir bilden ein High-Five-Begrüßungsspalier für die ankommenden Teams. Und viel seltener als befürchtet muss auch mal kurz durchgefegt oder der Ball abgewischt werden.

Special Olympics: Rückenansicht des lila Volunteer-T-Shirts
Klare Ansage: Wir sind für euch da.
© Special Olympics World Games Berlin 2023 / Florian Conrads

Der erste Ballkontakt fällt noch etwas schüchtern aus, aber ganz schnell macht einfach alles Spaß! Denn wir sind mittendrin, Teil von etwas Großem, Besonderen, Sinnhaften. Dieser Geist erfasst uns irgendwie alle. Von morgens bis abends auf den Beinen zu sein, die vielen Eindrücke zu verarbeiten und den Lärm auszuhalten, wenn Jubelstürme inklusive Fußtrampeln die Tribünen beben lassen – das ist wahnsinnig anstrengend. Aber so schön und unvergesslich!

Gänsehaut und Glückshormone

Als ich die ersten Male die kleinen, liebevollen Gesten der Spielerinnen und Spieler beobachte, mit denen sie auf Fehler oder verlorene Punkte reagieren, staune ich noch und denke, 'Schau mal, wie süß'. Sobald ein Ball daneben geht, wird sich nicht nur abgeklatscht, nein, da gibt es kleine Umarmungen, aufmunternde Zurufe, herzliches Rückenrubbeln, ab und zu sogar mal ein beiläufiges Küsschen auf den Kopf. Und immer wieder werden die Kolleg:innen, die nicht ganz die richtige Position auf dem Feld eingenommen haben, geduldig und respektvoll dorthin dirigiert.

Gewinnt eine oder einer der Athlet:innen einen direkten Punkt, wird das noch ausgelassener gefeiert als bei den zugegebenermaßen meist stärker spielenden Unified Partners. Aber bald staune ich nicht mehr darüber, denn ich sehe diese Herzenswärme schließlich überall und freue mich nur noch. Gänsehaut bekomme ich trotzdem jedes Mal wieder. Sogar jetzt, wenn ich davon erzähle. Natürlich ärgern sich die Spieler:innen auch, wenn es nicht gut für sie läuft. Normal, oder?

Hier, bei den Special Olympics ist all das, was das Leben beschwerlich, ja manchmal regelrecht schwer auszuhalten macht, aber an das wir uns schon fast gewöhnt haben, ganz fern: Lügen, Neid, Missgunst, Hass, Gewalt. Hier begegne ich nonstop dem Gegenteil: Zugewandtheit, Trost, Wertschätzung, Unterstützung, Rücksicht – alles Dinge, die das Leben lebenswert machen. Sicher, es ist nur ein kleiner, feiner Ausschnitt der Lebensrealität. Aber ich empfinde es als großes Geschenk, gerade diesen Teil mitzuerleben.

Wie toll es ist bitte, Special Olympics (SO)-Teams aus der Mongolei oder Samoa zu sehen! Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes um die halbe Welt gereist, um an diesen Weltspielen teilzunehmen. Ich hätte auch nicht unbedingt erwartet, dass die Vereinigten Arabischen Emirate ausgerechnet ein Frauenteam schicken würden. Unvergesslich, die Dynamik, als dieses Team ausgelassen und lautstark die (rein männliche) Mannschaft aus Saudi-Arabien anfeuerte und deren Trainer darüber fast außer sich vor Freude geriet. Ich wusste nicht, dass Länder wie Tansania, Botswana, Usbekistan oder Aserbaidschan, in denen die Infrastruktur und Lebensbedingungen für Menschen mit Handicap bestimmt noch einmal schlechter sind als hier, ebenso inklusive Volleyballteams haben wie Italien, Österreich oder die USA. 

Was mich rührt: Die Begeisterung im Publikum ist echt. Niemand lacht, wenn Bälle verspringen, der Einsatz verpasst wird, niemand macht sich über die Cheerleader lustig, die in der Pause ziemlich außer Takt, dafür voller Ernst und Inbrunst und mit viel Glitzerschminke dekoriert, ihre Choreografie präsentieren. Alle bekommen ehrlichen Applaus und die Anerkennung dessen, was sie eben zu leisten in der Lage sind. 

Special Olympics: Maskottchen Unity bei der Eröffnungszeremonie
Unity, das Maskottchen der Special Olympics World Games 2023 in Berlin
© Special Olympics World Games Berlin 2023 / Marvin Ibo Guengoer

Das Maskottchen der Spiele ist ein großes Herz auf zwei Beinen. Es heißt Unity, was natürlich gut passt zum #ZusammenUnschlagbar. Aber die eigentliche Botschaft ist: Liebe. Klingeln da schon wieder die Kitsch-Alarmglocken? Ich kann nicht anders: Ich fühle mich, wie in einen Kessel voller Glückshormone-Zaubertrank getaucht. Wie bei Obelix, mit nachhaltiger Wirkung – um im Bild zu bleiben: Ich tropfe immer noch.

Was wirklich behindert

Wo ich auch hinschaue, ich sehe freundliche, strahlende Gesichter. Und diese Leute, deretwegen wir alle hier sind, bekommen durch uns, durch die Gesellschaft das Etikett "Beeinträchtigt" oder "Behindert" aufgedrückt – finde den Fehler! Ich kann ihnen ansehen, wie perfekt sie das Im-jetzt-Sein beherrschen und ungefiltert Glück und Freude empfinden. Das ist ungeheuer ansteckend. Sie genießen immer genau den einen Moment, den sie gerade erleben. Das ist doch kein Handicap, sondern eine Stärke, von der ich jedenfalls gerne etwas mehr hätte. Nicht die Menschen sind "behindert", die Umstände und Lebensbedingungen sind es!

Bitte nicht falsch verstehen, ich halte das Leben mit einem behinderten Kind für alles andere als Friede, Freude, Eierkuchen. Ich habe höchsten Respekt vor allen betroffenen Familien, die täglich vielfältige Herausforderungen und Belastungen zu stemmen haben. Denn ihnen wird das Leben enorm erschwert. Es gibt viel zu wenige integrative Kitas, Schulen, Sportvereine, Arbeitsplätze, bürokratische Bremsklötze und auch viele Berührungsängste da draußen.

Werkstätten und Heime für Menschen mit Behinderungen sind ja gut und schön. Doch genau genommen tragen sie doch vielmehr zur Segregation bei anstelle zu inkludieren, oder? Außerdem: Was geschieht, wenn ein behindertes Kind, das sich nicht selbst versorgen kann, volljährig wird? Was, wenn Kinder mit Down-Syndrom oder einer starken Intelligenzminderung ihre Sexualität entdecken, sich verlieben und eine eigene Familie gründen wollen? Wie gehen älter werdende Eltern damit um, dass ihr Kind niemals flügge werden wird? Nein, mit einem Ponyhof hat das nichts zu tun. 

Ich glaube aber, es wäre ein Gewinn für jede und jeden Einzelnen und auch für uns als Gesellschaft, wenn wir mehr dieser speziellen Menschen kennen würden. Wenn sie selbstverständlich einfach Nachbar, Schulfreundin, Arbeitskollege oder Sportskameradin wären. Initiativen wie "Stück zum Glück", bei der sich die Aktion Mensch zusammen mit REWE und Procter & Gamble für den Bau barrierefreier Spielplätze einsetzt, tragen einen Teil dazu bei. Ich würde mir noch viel mehr davon wünschen.

Wusstet ihr schon? Die nächsten SO World Games werden Winterspiele sein. 2025. In Turin. Neues Spiel, neues Glück!

Brigitte

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