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Alltagsdrogen: Warum wir immer häufiger zu Pillen und Alkohol greifen

Alltagsdrogen: Frau trinkt Rotwein
© stockfour / Shutterstock
Alkohol trank man auf Partys, Medikamente nahm man,
wenn man krank war. Mittlerweile scheinen Alltagsdrogen jedoch vor allem für Frauen eine andere Funktion zu haben.

Jetzt erstmal ein schönes Glas Rotwein!

War ein stressiger Tag heute. Wie so häufig, aber nun ist Feierabend, also ab auf die Couch und ein schönes Glas Rotwein. Oh, schon alle?
Ach, noch ein zweites. Der Wein schmeckt wirklich gut. Und dieses leicht berauschte Gefühl im Kopf ist auch ganz angenehm, das über den grauen Tag diesen angenehm warmen Filter legt. Noch ein Glas? Lieber nicht. Okay, allenfalls noch ein halbes. Man ist schließlich keine Alkoholikerin. Nur Genießerin.

Eine Zeit lang sah man an jeder U-Bahn-Station die Plakate der Kampagne "Alkohol - kenn dein Limit". Sie zeigten meist Jugendliche auf Partys, die auf dem einen Bild noch fröhlich miteinander flirteten und feierten, während sie auf einem zweiten Bild - nachdem sie ihr Limit überschritten hatten - entweder sturzbetrunken in unvorteilhafter Pose eingeschlafen waren oder gleich vom Rettungswagen abgeholt wurden.

Nun, vielleicht hatte die Kampagne sogar Erfolg, denn die Zahl der jugendlichen Alkoholkonsumenten hat sich binnen der vergangenen 15 Jahre halbiert, auch junge Erwachsene bis 25 Jahre trinken immer weniger, ebenso der deutsche Durchschnitt.

Gerade gebildete Frauen neigen zu riskantem Konsum

Es gibt allerdings eine Bevölkerungsgruppe, die entgegen dieses Trends ziemlich häufig zum Glas greift: die erwachsenen, gebildeten Frauen.

Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts sind es vor allem Akademikerinnen ab 45 Jahren, die zu regelmäßig riskantem Konsum neigen. Eine Plakatkampagne, die sich an erwachsene, gebildete Frauen richtet, gäbe bildlich allerdings nicht so viel her. Denn um Party geht es hier eher nicht.

Um Party geht es hier nicht ...

"Wir sehen gerade bei Frauen, die erfolgreich im Beruf sind und dann zu Hause die klassische, fürsorgliche Rolle in der Familie übernehmen, dass sie einfach schnell entspannen wollen. In Turbozeit. Und da helfen vermeintlich zwei Glas Rotwein ganz wunderbar", sagt Kerstin Jüngling, Geschäftsführerin der Berliner Fachstelle für Suchtprävention.

Diese Frauen würden sich nie als suchtgefährdet ansehen. Und könnten sich damit gewaltig irren: "Natürlich ist das ein riskanter Konsum, wenn man es regelmäßig macht. Aber es wird kaum darüber gesprochen, weil man am nächsten Tag nichts merkt, und weil es ja auch über Jahre gut geht. Bis man merkt, dass man nicht mehr ohne kann."

Frauen ab 45 greifen öfter zum Glas als andere

Viele Mediziner haben sich von dem alten Glaubenssatz verabschiedet, dass Alkohol in geringen Dosen gesünder sei als gar kein Alkohol. Alkohol ist nun mal ein Zellgift, es gibt allenfalls "risikoarmen" Konsum, und wie der aussieht, ist in jedem Land anders definiert.

In Deutschland sind die Grenzwerte besonders streng, sie erlauben Frauen maximal ein kleines Glas Bier oder ein halbes Glas Wein pro Tag, alles darüber gilt schon als "riskant". Weinselige Nächte, die man mit der besten Freundin durchplaudert, oder eine durchtanzte Nacht mit mehreren Gin Tonics, im Fachjargon "Rauschtrinken", sind natürlich überhaupt nicht vorgesehen.

Das mutet weltfremd an in einer Gesellschaft, in der Alkohol überall dazugehört: Bei jedem Empfang, jedem Kneipenbesuch, jedem besseren Essen. Und der Wein, den man dann zusätzlich einfach mal abends so zum Runterkommen trinkt - ist der dann nicht auch egal?

Oder macht es vielleicht doch einen Unterschied, ob man sich gelegentlich bewusst in einen fröhlichen Rausch stürzt, in vollem Bewusstsein, dass das ungesund und unvernünftig ist? Oder ob man immer öfter trinkt, um mit einem beschissenen Tag, mit Druck, Stress, innerer Leere fertigzuwerden?

Die Frage ist: Hat Alkohol eine Funktion in meinem Alltag bekommen?

"Man muss sich ganz ehrlich fragen: Hat der Alkohol für mich eine Funktionalität im Alltag bekommen?", sagt Suchtexpertin Kerstin Jüngling. "Habe ich zum Beispiel das Gefühl, ohne zwei große Bier am Abend nicht einschlafen zu können?" Wer hier Ja sagt, hat bereits ein Problem. Nicht nur ein potenziell gesundheitsgefährdendes.

Die amerikanische Autorin Kristi Coulter beschrieb es in ihrem Artikel "Die betrunkene Frau" folgendermaßen: "Ich erkenne, dass Alkohol das Öl in unseren Motoren ist; das, was uns zum Schnurren bringt, wenn wir eigentlich ganz andere Geräusche von uns geben wollen."

Alkohol ist Öl in unseren Motoren; das, was uns zum Schnurren bringt, wenn wir eigentlich ganz andere Geräusche von uns geben wollen

Auch Medikamente werden immer häufiger eingeworfen

Schrecklich, diese Stunde zwischen drei und vier Uhr morgens, wenn die Gedanken Achterbahn fahren. Und morgen muss man doch wieder fit sein! Gut, dass einem der Arzt dieses Schlafmittel verschrieben hat. Soll man natürlich nicht zu lange nehmen. Aber was ist die Alternative? Morgen übermüdet und überhaupt nicht leistungsfähig zu sein, obwohl jetzt gerade so viel zu tun ist?

Bis zu 1,9 Millionen Menschen in Deutschland sind laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen von Medikamenten abhängig. Gefährdet sind insbesondere Frauen - paradoxerweise gerade weil sie eben mehr auf ihre Gesundheit achten und öfter zum Arzt gehen als Männer, auch und gerade bei psychischen Beschwerden. Und dort bekommen sie beispielsweise, oft auf Privatrezept, Schlaf- und Beruhigungsmittel. Oder Antidepressiva.

In der Menopause werden Antidepressiva verordnet

Zunehmend auch in Fällen, wo es vielleicht nicht sein müsste: "Wir machen die Beobachtung, dass Antidepressiva offenbar das neue Medikament in der Menopause sind", sagt Kerstin Jüngling. "Die Frauen leiden unter den typischen Stimmungsschwankungen, lehnen aber Hormone wegen des erhöhten Krebsrisikos ab. Und dann gehen sie zu ihrem Gynäkologen und sagen: Ich muss noch die letzten Präsentationen fertig machen, aber ich bin so schlecht drauf, ich schlafe schlecht, bitte geben Sie mir was. Und der Arzt sagt: Okay, wenn Sie denn unbedingt funktionieren müssen, dann schreibe ich Ihnen halt was auf."

Nein, das muss nicht abhängig machen. Es hilft vermutlich sogar vielen. Aber nicht nur Kerstin Jüngling fragt sich, warum es so normal geworden ist, mit einer Substanz nachzuhelfen, um den ganz normalen Alltag zu bewältigen, anstatt zu überlegen, wie man den Alltag an sich bewältigbarer machen könnte. "Wir brauchen eine gesellschaftliche Diskussion darüber, dass höher, schneller, weiter nur bis zu einem bestimmten Punkt geht. Wir sind keine Maschinen. Jeder Mensch braucht Regeneration, Freude, Inspiration, um etwas zu leisten", sagt die Suchtpräventionsexpertin. "Was viele aber bekommen, ist nur Druck."

"Wir sind keine Maschinen. Jeder Mensch braucht Regeneration.
Doch viele bekommen nur Druck."

Die Verharmlosung von legalen Alltagsdrogen - machen ja alle, ist doch normal, hey, ich mach mir noch ’nen Barolo auf - führt im besten Fall nur dazu: Dass wir uns gar nicht mehr fragen, ob das, was wir hier machen, noch ein bewusst gewählter Genuss, vielleicht auch mal Exzess ist. Oder nur die einzig gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeit, sich sein eigenes Leben in Watte zu packen, weil es sonst einfach kaum zu ertragen wäre. 

BRIGITTE 02 / 2018

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