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Ukraine-Konflikt: Wenn geliebte Menschen zu Feinden werden

Ukraine-Konflikt: Wenn geliebte Menschen zu Feinden werden
© REUTERS/ Djurica
Der Ukraine-Konflikt prägt die Region nicht nur politisch, er verändert auch die Beziehungen der Menschen untereinander. Die Journalistin Julia Lugovska über den Alltag in der Ukraine, den Umgang mit russischen Verwandten und den neuen Nationalstolz.

Die vergangenen Monate haben das Leben der Ukrainer für immer verändert. Leider selten zum Positiven. Die militärische Aggression durch Russland hatte nicht nur Einfluss auf das tägliche Leben der Menschen, sondern auch auf ihr Verhältnis untereinander - nicht zuletzt durch die massive Anti-Ukraine-Kampagne, die in Russland seit Monaten läuft und durch die Revolution noch verstärkt wurde. Der Fluss an negativen und diffamierenden Informationen von Seiten der russischen Medien verändert nicht nur die Wahrnehmung vieler Russen, sondern auch die der Ukrainer. Vermutlich ist das einer der Hauptgründe dafür, dass sich Menschen, die einander einmal sehr nahe waren, plötzlich fremd sind.

"Wir werden als Nazis bezeichnet, nur weil wir uns wünschen, in einem unabhängigen Land zu leben."

Auch die 60-jährige Nina bekommt diese Veränderungen zu spüren. Die Russin ist mit einem Ukrainer verheiratet und wohnt mit ihm seit vielen Jahren in Kiew. In den letzten Monaten bemerkte sie, wie sich das Verhältnis zu ihren Verwandten und Freunden in Russland abkühlte. "Menschen, die selbst lange in der Ukraine gelebt hatten und hier oft zu Besuch waren, begannen plötzlich, uns als Feinde zu betrachten", sagt Nina. "Sie weigern sich, uns zuzuhören, uns Glauben zu schenken. Stattdessen verlassen sie sich lieber auf die Informationen, die sie übers Fernsehen und über Zeitungen bekommen." Auch Beschimpfungen müsse sie sich anhören. "Wir werden als Faschisten und Nazis bezeichnet, nur weil wir uns wünschen, in einem unabhängigen Land zu leben. Das tut weh."

Am schwierigsten sei die Kommunikation mit Menschen aus Moskau. Während die Leute aus der russischen Provinz mehr Verständnis für die Wünsche der Ukrainer zeigten, würden sich Verwandte aus der Hauptstadt benehmen wie Oberlehrer, sagt Nina. "Als wären wir Ukrainer alle beschränkt und könnten ohne ihre Erklärungen nicht verstehen, was in unserem Land vor sich geht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie uns als 'Menschen zweiter Klasse' betrachten." Gespräche mit Leuten aus Russland seien sehr schwierig geworden, darum versucht Nina sie zu vermeiden. "Obwohl ich geborene Russin bin, fühle ich mich zunehmend als ukrainische Patriotin. Ich spüre, wie meine Verbindung zu Russland immer schwächer wird. Ich kann mir aktuell nicht vorstellen, das Land zu besuchen und ich fürchte, dass auch meine Beziehungen zu Freunden und Verwandten dauerhaft gestört sind. Sie werden nie wieder so sein wie früher."

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Iryna, eine junge Englisch-Lehrerin aus Bila Tserkva in der Nähe von Kiew, hat gar keinen Kontakt mehr mit der russischen Verwandtschaft. "Meine halbe Familie lebt in Russland", erzählt die 29-Jährige. "Sie zogen dort vor zehn Jahren hin und fühlen sich inzwischen als 'echte' Russen." Mit ihren ausgewanderten Verwandten verstand sich Iryna gut, vor allem mit dem Cousin, er besuchte sie jeden Sommer. "Aber jetzt sprechen wir nicht mehr miteinander. Wir haben es versucht, aber alle Gespräche endeten bei einem Thema: Politik."

Irynas Alltag habe sich ansonsten kaum verändert. "Ich gehe arbeiten, verreise und mache all die Dinge, die ich sonst auch jeden Tag tue." Das Gleiche gelte für ihre Freunde. Sie hätten auch nicht an den Protesten teilgenommen, waren nie auf dem Maidan, dem Platz, wo Demonstranten monatelang eine pro-europäische Politik Kiews forderten. "Trotzdem spüre ich einen großen emotionalen Druck", sagt Iryna. "Ich hatte erst die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden würde. Aber als die ersten Menschen bei Protesten starben, habe ich aufgehört, Nachrichten zu sehen. Nicht, weil es mir egal war, sondern weil ich es mir zu sehr zu Herzen nahm." Sie könne die Aggressionen, die Lügen und Ungerechtigkeiten nicht mehr ertragen. "Es ist, als würde meine Seele weinen. Ich kann einfach nicht verstehen, warum Menschen sterben müssen, nur weil sie die ukrainische Fahne hochhalten. Wie kann so etwas in einem zivilisierten Land des 21. Jahrhunderts passieren?" Sie und ihre Freunde fühlten sich sehr müde und wünschten sich nichts mehr, als dass endlich wieder Frieden einkehre.

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Anna, 30, aus Luhansk, geht es ähnlich. "Warten und Erschöpfung", mit diesen Worten beschreibt sie die Verfassung der Menschen in der Ostukraine. Die Psychologin wohnt nahe der Geheimdienstzentrale, die im April von Separatisten gestürmt worden war. Sie erlebte mit, wie Helikopter über ihrem Haus kreisten und bewaffnete Männer sich in ihrem Garten verschanzten. "Es ist, als hätte man uns den Boden unter den Füßen weggezogen. Es gibt keine Stabilität mehr." Auch sie fühlt sich oft als 'Mensch zweiter Klasse' behandelt, allerdings von den eigenen Landsleuten. "Zwischen den Ukrainern im Osten und Westen ist die Kommunikation ebenfalls schwierig geworden, die Mentalitäten sind sehr unterschiedlich." Die Donbass-Region, in der die meisten Unruhen stattfinden, sei schon immer geprägt gewesen von vielen Ethnien, von Ukrainern, Russen, Griechen, Weißrussen. Es sei eine spezielle Gegend mit speziellen Bedürfnissen. "Mich wundert, dass die ukrainische Regierung diesen Aspekt so wenig beachtet", sagt Anna.

Trotzdem versucht Anna, optimistisch zu bleiben. Als Psychologin ist sie überzeugt, dass Gespräche die beste Lösung aller Konflikte sind. "Man muss miteinander reden, mit einer freundlichen Haltung und friedlichen Absichten." Auch das Ukraine-Problem könne man auf diese Weise lösen.

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Die 27-jährige Lara aus Kiew versucht, die Probleme zu verdrängen. "Ich vermeide Diskussionen über Politik und ignoriere die negativen Kommentare über die Ukraine." Dadurch sei ihr Verhältnis zu den russischen Verwandten noch ganz in Ordnung. Trotzdem wache sie jeden Morgen mit der Angst auf, dass etwas Schlimmes in ihrer Heimat im Süden der Ukraine passiert sein könnte. Es sei eine schlimme Vorstellung, dass das Dorf, in dem ihre Großmutter lebt, eines Tages plötzlich auf der russischen Seite liegen könnte, so wie es mit der Krim passiert ist. "Aber das wichtigste ist, dass wir alle versuchen, menschlich zu bleiben. Irgendwann wird sich alles normalisieren und dann wird es leichter sein, mit einem reinen Gewissen weiterzuleben."

Auch für Iryna hat sich durch den Konflikt die Liebe zur ihrem Land verstärkt. "Wir haben uns noch nie so mutig und so ukrainisch gefühlt", sagt sie. "Wir malen Brücken und Straßenlaternen Blau und Gelb an, wir weinen zusammen um gefallene Soldaten und schwören, dass wir eine bessere Nation werden wollen. Wir zeigen der Welt, dass wir frei und stark sind, und dass auch wir unsere Würde haben. Wir sind aufgewacht. Alles ist möglich."

Unsere Autorin

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Julia Lugovska, 28, lebt in Kiew und arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin. Ihre Schwerpunkte sind politische Themen in der Ukraine, Europa und im Nahen Osten. Sie schreibt Blogs und Beiträge für Nachrichtenagenturen.

Übersetzung: Michèle Rothenberg Fotos: privat

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