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"Schatz, komme zu spät, stecken im Luftalarm fest"

"Schatz, komme zu spät, stecken im Luftalarm fest"
© Israel/Reuters
Während des WM-Halbfinales erreicht BRIGITTE-Mitarbeiterin Sarah Levy die Nachricht, dass Jerusalem und Tel Aviv von Raketen angegriffen wurde. Sie fragt bei ihren israelischen Freunden und Verwandten nach: Wie fühlt sich der Alltag jetzt an?

Um 22.06 Uhr, kurz vor dem ersten Tor der deutschen Nationalmannschaft, ploppt die Eilmeldung auf meinem Handy auf: "Jerusalem unter Raketenbeschuss." Ich halte die Luft an. Schon am Nachmittag sollen Raketen vom Schutzsystem "Iron Dome" über Tel Aviv abgefangen worden sein. Erst mal Facebook checken.

Eine deutsche Freundin in Tel Aviv schreibt: "Wenn die Sirenen heulen, erinnert dich das daran, dass diese Welt voller Hass ist. Das ist so frustrierend!" Eine andere zitiert die SMS ihres Freundes: "Hey Schatz, tut mir leid, komme zu spät, um noch Essen zu gehen, stecken im Luftalarm fest, vielleicht was bestellen?" Ich schreibe eine Email an meine Cousins, die in Tel Aviv leben. "Passt auf euch auf!" Meine Cousine sendet das Bild zweier betender Hände.

Über Facebook komme ich in Kontakt mit der israelischen Realität, in der die Tat weniger Irrer eine ganze Region ins Chaos stürzen kann. Ich habe Familie in Israel, deutsche Freunde und Bekannte. Die meisten leben in Tel Aviv, in dieser hedonistischen Blase, wo die Sonne fast immer scheint und der Konflikt am Schutzschild des Raketenabwehrsystems "Iron Dome" abprallt.

"Das Leben geht mehr oder weniger unbeeindruckt weiter."

Von Tel Aviv sind es mehrere Autostunden nach Hebron, wo die drei israelischen Jugendlichen ermordet wurden. Mehr als eine Stunde braucht man nach Jerusalem, wo israelische Nationalisten Rache an einem palästinensischen Jugendlichen geübt haben. Tel Aviv ist auch das Urlaubsziel meiner Schwester, Ende Juli will sie hinfliegen: Sommer, Strand, Badeurlaub. Seit dem Verschwinden der israelischen Teenager habe ich sie genervt mit meiner Sorge. "Die Situation dort ist ernst!", sagte ich. "In Israel ist immer irgendwas", sagte sie.

In der Halbzeit des WM-Halbfinales zeigt das "Heute-Journal" Bilder von Israelis, die in Schutzräume hasten, man sieht Rauchwolken vor dem Blau des Tel Aviver Himmels, Frauen in Sommerkleidern, die sich hinter parkende Autos kauern, rollende Panzer.

Eine deutsche Freundin, deren Freund in Israel lebt, erzählt mir, wie es ist, "unter Beschuss" zu leben: "Man hört Sirenen, dann einen dumpfen Knall und spätestens jetzt weiß man, dass 'Iron Dome' hält, was er verspricht. Das Leben geht mehr oder weniger unbeeindruckt weiter." Die Freundin, deren Freund sich wegen des Luftalarms für das Abendessen verspätet hat, war zum Public Viewing des Halbfinales am Strand von Tel Aviv. "Knapp eine Sekunde nach dem ersten Tor hat man eine Explosion gehört - aber nach Hause gegangen ist niemand", schreibt sie.

"Die meisten rennen in die Schutzräume. Ich nicht. Ich will das Feuerwerk sehen."

Am Tag nach dem Spiel schreibe ich mit Raffi, einem israelischen Freund, der in Tel Aviv lebt und arbeitet.

Raffi: Heute morgen hat die Hamas sechs Raketen nach Tel Aviv geschickt. Ich: Was hast du gemacht? Raffi: Hehe, ich bin zur Arbeit gegangen.

Auch das ist israelische Realität. Krieg, Raketen, Sirenen - so gruselig das für uns in Deutschland klingt, so normal ist das für die Menschen in Israel. Damit umzugehen, auch mit der Angst, ringt vielen schwarzen Humor ab, sie klopfen zynische Sprüche wie Raffi: "Die meisten rennen in die Schutzräume. Ich nicht. Ich will das Feuerwerk sehen." Eine Freundin schreibt: "Du solltest herkommen. Die Strände sind jetzt wenigstens leerer ;)"

Raffi sagt, er fühle sich sicher in seinem Land, sogar wenn es sich im Krieg befinde. Und erzählt von Städten wie Sderot, nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt, wo alle zehn bis zwanzig Minuten die Sirenen schrillen. In Tel Aviv passiere das nur alle paar Stunden.

Einige meiner deutschen Bekannten finden, dass die Tel Aviver mit ihrer Gelassenheit kokettieren. Tatsächlich sind es eher die Nachrichten über Freunde, die eingezogen werden, die sie beunruhigen. Mimi, die in Hod HaSharon vor Tel Aviv lebt, meint: "Dieses Mal ist es wirklich ernster... Es wurden sehr viele Reservisten eingezogen, dieses Mal kenne ich auch einige. Und es kommen zu viele Raketen ins Zentrum. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Armee dieses Mal auch wirklich einmarschieren wird."

Ich denke an die Menschen im Gazastreifen, die mit den Raketen nichts zu tun haben, und die jetzt um ihr Leben, ihre Familie und ihre Häuser fürchten.

Meine Schwester hat ihren Flug inzwischen storniert. Und meine Freundin Mimi hat ihren eigenen Weg gefunden, mit der Anspannung umzugehen: "Auf meine Facebook Wall gucke ich nicht mehr. Stresst mich zu sehr."

Sarah Levy

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