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"Wovor sollte ich Angst haben?" – Ein Jahr mit einem Flüchtling

"Wovor sollte ich Angst haben?" – Ein Jahr mit einem Flüchtling
© Arndt Haug
Adrienne Friedlaender, alleinerziehende Mutter von vier Söhnen aus Hamburg, zögerte nicht lange, sondern nahm in der Flüchtlingskrise einfach einen jungen Mann bei sich Zuhause auf. Ganz ohne Plan. Darüber hat sie ein äußerst amüsantes Buch mit dem Titel "Willkommen bei den Friedlaenders" geschrieben. Warum sie dankbar für die Zeit ist und mit wem aus der Familie er sich besonders gut verstanden hat, hat sie uns im Interview erzählt.
von Tina Epking (Interview)

Wie kam es dazu, dass ihr einen Flüchtling aufgenommen habt?

Adrienne Friedlaender: 2015 haben wir all diese Bilder gesehen, überall wurde immer nur von Flüchtlingen berichtet, von sinkenden Booten, zerbombten Städten. Überall sprach man ständig von den "armen, armen Flüchtlingen" – und irgendwann sagte mein Sohn, dass er es komisch findet, dass allen die Flüchtlinge leidtun, aber keiner einen aufnimmt. Außerdem hat eine Freundin von mir, die als Kunsttherapeutin mit Flüchtlingen arbeitete, einen jungen Mann bei sich aufgenommen. Bei mir war gerade mein ältester Sohn ausgezogen, wir hatten also etwas mehr Platz. Moaaz war genauso alt wie mein ältester Sohn. Mein Gedanke war, dass ich mich als Mutter sehr freuen würde, wenn eine anderen Mutter ihm in so einer Situation helfen würde. 

Waren deine Söhne ohne Einwand einverstanden?

Ich habe die Jungs zusammengerufen und sie gefragt, was sie davon halten, wenn wir das machen. Alle haben sofort ja gesagt. 

Wie war denn das erste Treffen?

Ich bin mit meinen beiden kleinen Söhnen, sie sind damals acht und zehn gewesen, in die Erstaufnahme in die Schnackenburgallee gefahren. Meine Freundin hatte einen Kontakt für uns gemacht über Hussein, der bei ihr lebte, und wir haben dann dort zum ersten Mal seinen Freund Moaaz getroffen. Es war eine trostlose, furchtbare Atmosphäre in dem Lager, und er hat vor Aufregung gezittert, mir war schnell klar, dass ich aus dieser Nummer emotional nicht mehr rauskomme. 

Seid ihr dann noch mal hingefahren?

Nein, Moaaz war so ein verletzlicher, junger, magerer Mann mit großen braunen Augen. Er tat mir leid, es gab auch nichts, was dagegen gesprochen hätte, ihn bei uns aufzunehmen. Und wir waren ja nicht im Tierheim. Ich konnte nicht einfach sagen, wir wollen lieber einen anderen. Ich wusste auch gar nicht, welche Fragen ich stellen soll, die ihn vermeintlich dafür qualifizieren bei uns zu wohnen. Irgendwann hat einer meiner Söhne mir zugeflüstert, ob wir Moaaz nicht einfach sofort mitnehmen können. Das haben wir dann gemacht.

"Es kam auf einen mehr einfach nicht an"

Hattest du dich vorbereitet?

Überhaupt nicht. Ich hatte gar keinen Plan. Das Zimmer war noch nicht vorbereitet, ich hatte das alles gar nicht durchdacht – auf einmal saß er bei uns im Auto. Wir hatten allerdings grundsätzlich entschieden, dass wir ihn auf jeden Fall mitnehmen, nur nicht wann. Außerdem war die Idee, jemanden über den Winter aufzunehmen, das war keine Entscheidung für immer. Da musste ich nicht ewig drüber nachdenken. Es passte ja auch in meine Lebenssituation.

Wie meinst du das?

Moaaz war genauso alt wie mein 22 Jahre alter Sohn, der gerade ausgezogen war. Ich hatte sowieso schon drei Jungs im Haus, die dauernd Freunde mitbringen. Hier sausen häufig junge Menschen durchs Haus, die ich gar nicht kenne. Es kam auf einen mehr einfach auch nicht an.

Bist du eigentlich oft gefragt worden, ob du nicht Angst hattest, einen völlig fremden Menschen bei dir aufzunehmen?

Ja, das bin ich sehr oft, aber das habe ich nicht verstanden. Das sind ja völlig irrationale Ängste. Viele dachten, dass ich Angst davor haben müsste, mit einem Moslem unter einem Dach zu leben. Aber wovor sollte ich denn Angst haben? Davor, dass er einen anderen Glauben hat? Nur, weil er fremd ist? Der selbstverständliche Umgang fehlt uns da oft. 

Wie fühlte sich das eigentlich an, als ihr dann alle Zuhause zusammen gewohnt habt?

Nicht selbstverständlich natürlich. Man muss sich erstmal beschnuppern. Aber ich war vorher nicht alleine, ich musste sowieso Rücksicht nehmen, ich war das gewöhnt. Er war am Anfang sehr viel in seinem Zimmer, anfangs dachte ich, er würde mit den anderen Jungen Sport machen. Er hatte dazu aber gar keine Lust. Er hatte sehr viele traumatische Dinge erlebt, er war ängstlich, er war schüchtern, er hatte Depressionen. Er brauchte einfach ganz viel Ruhe. 

"Ich hatte Vorurteile gegenüber Männern, nicht Syrern"

Wie bist du damit umgegangen?

Ich war oft unsicher, ich habe bestimmt nicht alles richtig gemacht. Aber ich finde es traurig, wenn man aus Unsicherheit, etwas falsch zu machen garnichts macht. Ich dachte, er muss integriert werden, ich habe erst nicht verstanden, warum er sich zurückzieht, aber dann habe ich es mir umgekehrt vorgestellt. Ich hätte nach einer Flucht und Ankunft in einem anderen Land, einer so fremden Kultur, auch lieber erstmal meine Ruhe gehabt. Alle sagen immer, ich wäre mutig. Dabei war es von ihm unglaublich mutig, zu uns zu kommen. Auch wenn es nicht schön dort war, hatte er ja eine vertraute Umgebung in der Erstaufnahmestelle, dort waren Landsleute, Menschen, mit denen er sich verständigen konnte.

Waren die Jungs unbefangener als du?

Die waren völlig pragmatisch. Die haben ihr Ding gemacht. Vor allem der Große, Jonah war achtzehn und der hat schnell festgestellt, dass es wenig Gemeinsamkeiten gibt, weil er sich vor allem für Sport, Partys und Mädchen interessierte. Er hat mit ihm gesprochen, wenn er ihn getroffen hat, aber das war es dann auch. Erst dachte ich, er könne ihn auch mitnehmen, aber dann ist mir aufgefallen, dass es zu viel verlangt ist. Sie hatten ja schon ein Zimmer freigeräumt und ihn bereitwillig aufgenommen. Mehr musste nicht sein. Das ist auch ein Grund, warum viele Menschen nicht einfach jemanden aufnehmen, weil sie denken, dass sie sich dann rund um die Uhr um jemanden kümmern müssten. 

Wie hast du das gemacht?

Als ich ihn Freitag abholte, war ich am Abend mit einer Freundin verabredet. Das habe ich auch nicht abgesagt, weil es mir wichtig war. Ich habe ihm sein Zimmer gezeigt, ihm etwas zu essen gemacht und mich dann verabschiedet. Man kann das ganz normal anfassen. Wobei ich selbst natürlich auch gemerkt habe, dass ich ein paar Vorurteile habe. Allerdings mehr gegenüber Männern als gegenüber Syrern (sie lacht).

"Ich kam mir vor wie eine Vollidiotin"

Wie hat sich das geäußert?

Ich wollte ihm beibringen, dass er bei uns nicht im Stehen pinkeln soll. Das wollte ich ihm gleich am Anfang klarmachen. Ich habe dann auf Englisch verschiedene Formulierungen ausprobiert, aber er hat mich einfach nicht verstanden und mich immer ungläubig angeguckt. Dann habe ich ihm vorgemacht, was ich meine und dazu gesagt "We don't like it this way in our house". Dann guckte er mich nur verblüfft an und sagte "That's normal". Ich kam mir wie eine Vollidiotin vor.

War das die einzige Situation, in der ihr Missverständnisse hattet?

Ich dachte immer, er müsse eine Therapie machen, er hat ja nicht gegessen und hatte schwere Depressionen. Ich war damit total überfordert. Aber er wollte das auf gar keinen Fall. Ich dachte immer, er müsse reden, aber für ihn war das undenkbar. Er wollte über seine Flucht nicht reden. Das ist aber viel besser geworden, er ist heute ein ganz anderer Mensch. Er hatte einfach so unglaubliche Angst, auch um seine Familie in der Heimat.

Apropos Familie. Es gibt jemanden, zu dem er ein besonderes Verhältnis hatte?

Ja, meine 90 Jahre alte Mutter. Sie hat schon beim ersten Treffen stundenlang auf Deutsch auf ihn eingeredet. Er hat kein Wort verstanden, aber geduldig zugehört. Er war unglaublich höflich zu ihr, er hat große Ehrfurcht vor dem Alter und war sofort sehr liebevoll mit ihr. Das hat ihr gefallen. Sie haben sich zum Tee trinken getroffen, sie hat mit ihm Deutschstunden gemacht. Die beiden sind bis heute in engem Kontakt.

Wie ist der Kontakt zwischen dir und ihm heute?

Mal mehr, mal weniger. Aber regelmäßig. Es ist wie mit den großen Söhnen, mal alle drei Wochen, mal dreimal die Woche. Er wohnt nicht weit entfernt, gemeinsam mit seinem Freund Hussein, den meine Freundin Marion aufgenommen hat. Bei allen Familienfeiern ist er dabei, auch Weihnachten und Ostern und so weiter. Neulich war er mit mir auf einer Lesung, er spricht jetzt fließend Deutsch, er ist so offen und redet mit allen. Es ist wunderbar das zu sehen.

Würdest du das alles wieder so machen?

Ich finde, man kann soetwas nicht planen. Aber wenn ein Mensch in Not an meine Tür klopfen würde, würde ich vermutlich wieder so handeln. Rückblickend ist das alles eine sehr positive Erfahrung.

Hat die Zeit mit Moaaz dich verändert?

Ja, vor allem den Blick auf mein Leben. Der Familiensinn, der Moaaz so viel bedeutet, der hat mich nachdenklich gemacht. Sein unglaublich liebevoller Umgang mit meiner Mutter hat mich sehr berührt, seine große Geduld mit ihr. Er hat gesagt, wir sollen nicht streiten, weil die Zeit der Familie miteinander kostbar und begrenzt ist. Da hat er sicher recht. Ich glaube, wir haben alle sehr viel mitgenommen aus dem Jahr mit Moaaz. 

Adrienne Friedlaender, Jahrgang 1962, ist freie Journalistin. Sie lebt mit drei ihrer vier Söhne in Hamburg. Ihr Buch „Willkommen bei den Friedlaenders. Meine Familie, ein Flüchtling und kein Plan“ ist im Blanvalet Verlag erschienen und kostet 16 Euro.

Foto: PR

Barbara

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