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Bitte einmischen! "Kindesmissbrauch ist keine Privatangelegenheit"

Bitte einmischen!: "Kindesmissbrauch ist keine Privatangelegenheit"
© Tomsickova Tatyana / Shutterstock
Die Familie genießt besonderen Schutz in unserer Gesellschaft. Für Kinder, die Zuhause sexuelle Gewalt erleben, wird dieser Schutz jedoch zum Verhängnis. Eine wissenschaftliche Studie zeigt, warum wir nicht zögern dürfen, uns einzumischen.

Die "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland" (UBSKM) hat fünf Jahre lang Ursachen, Strukturen und Folgen sexuellen Kindesmissbrauchs in Familien untersucht. Nun liegen die Ergebnisse der Studie vor, für die 870 Berichte von Betroffenen und Zeug:innen ausgewertet wurden.

Der geschützte Raum der Familie – Segen und Fluch zugleich

Kinder sollten in ihrer Familie Geborgenheit erfahren, doch nicht selten ist das Gegenteil der Fall. Besonders perfide: Erleiden Kinder und Jugendliche Zuhause sexuelle Gewalt, sind sie den Täter:innen meist hilflos ausgeliefert. Hinzu kommt, dass sie ihre Eltern nicht einfach verlassen können, wie etwa den Chor oder den Sportverein. Wie die Studie zeigt, bleiben sie sexueller Gewalt durch Verwandte oft über einen langen Zeitraum ausgeliefert.

Diese 5 Faktoren zeichnen sexuelle Gewalt in der Familie aus

  • Familie ermöglicht es den Täter:innen, sich nach außen durch eine erzwungene Geheimhaltungspolitik abzuschotten, nach innen den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten und so einem betroffenen Kind alle Auswege zu versperren.
  • Täter:innen haben in Familien die Möglichkeit, planvoll vorzugehen und die Kinder einzuschüchtern und zu beherrschen.
  • In Familien kann die Abhängigkeit der Kinder von Fürsorge, Zuwendung und Unterstützung intensiv und anhaltend ausgenutzt werden.
  • Familiäre Abhängigkeiten erschweren es den Kindern, Gewalt als solche zu erkennen, zu benennen und sich jemandem anzuvertrauen.
  • Ein Merkmal von Familien ist die emotionale, soziale oder auch ideologische Verstrickung der Familienmitglieder. Regeln, die von Täter:innen aufgestellt werden, werden dadurch selten durchbrochen.

Wer sind die Täter:innen?

  • Zieht man Pflege- und Stiefeltern hinzu, machen Väter fast die Hälfte (48 Prozent) der Täter aus, Mütter fast 10 Prozent.
  • Als Täter wurden außerdem (Groß-/Stief-)Onkel, Brüder, Großväter und andere männliche Verwandte genannt.

Viele Betroffene erlebten sexuelle Gewalt durch mehr als eine:n Täter:in innerhalb oder außerhalb der Familie. Teilweise wussten diese voneinander, sprachen sich ab oder planten und organisierten ihre Taten zusammen. Fast die Hälfte der Kinder (48 Prozent) war zu Beginn der Gewalt jünger als sechs Jahre. Wenn die Gewalt im jungen Alter begann, dauerte sie oft viele Jahre an.

Das können wir tun

Sexueller Kindesmissbrauch ist keine Privatangelegenheit - das betont Sabine Andresen, Vorsitzende der Kommission und Autorin der Studie. Doch weil die Familie von außen häufig als geschlossenes System wahrgenommen wird, in das man sich nicht einzumischen hat, müssten Kinder und Jugendliche in vielen Fällen lange leiden, bevor sie Hilfe bekommen: 

Menschen im Umfeld von Familien scheuen sich allzu oft davor zu intervenieren und denken, es gehe sie nichts an, was hinter der Haustür einer Familie vor sich geht. Auch bei Fachkräften des Jugendamtes war diese Scheu vorhanden. Doch nicht zu intervenieren und Signale von Kindern zu übersehen, hat zu oft dazu geführt, dass Hilfe ausgeblieben ist.

Angela Marquardt, Mitglied des Betroffenenrates beim UBSKM adressiert eine weiteres Problem: Nicht die Täter:innen würden innerhalb der Familien als Problem wahrgenommen, sondern die betroffenen Kinder würden zum „Problem“ für die Familie erklärt. Sie fordert: "Für uns ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese verbreitete Kultur des Vertuschens und Schweigens auch in Familien zu überwinden und ein Ethos der Einmischung zu entwickeln.“

Die Studie macht deutlich: Kinder und Jugendliche sind darauf angewiesen, dass ihr Umfeld aufmerksam ist und handelt, wenn es einen Missbrauchsverdacht gibt. Jedes Kind muss sich darauf verlassen können, dass der Schutz der Familie nicht dazu führt, dass das Zuhause zur Falle wird.

Info: Wer einen Verdacht hegt oder selbst Hilfe benötigt, kann sich vertrauensvoll an das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch wenden. 

sar

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