Anzeige

Frauen über Brautraub in Kirgistan "Ich wünsche keiner anderen Frau ein Leben wie meins"

"Myosotis krylovii" from I am Jamilia
"Ich habe nicht erlebt, was Liebe ist", erzählte die betroffene Frau Bubunai der Fotografin Irina Unruh.
© Irina Unruh
Mitten am Tag werden junge Frauen entführt, manchmal hunderte Kilometer verschleppt und teils mit ihnen komplett unbekannten Männern verheiratet. Der sogenannte Brautraub ist ein Brauch in Kirgistan, der seit Jahrzehnten anhält.

Vor dem Start ihres Langzeit-Fotoprojekts "I am Jamila" kennt Irina Unruh den Brauch "Ala Kachuu" eigentlich nur aus Erzählungen. Ihre Familie kam in den 80er Jahren aus einem deutschen Dorf in Kirgistan nach Deutschland. Während ihre Mutter nicht von ihrem Vater "geraubt" wurde, war es damals aber für einige Freund:innen von ihr Realität. "Ala Kachuu" bedeutet übersetzt so viel wie "Packen und wegrennen". Vor allem auf dem Land wird es oftmals zum Alltag vieler Frauen, aber auch in der Hauptstadt Bischkek kommt es vor.

Als Irina das Land bereisen möchte, glaubt sie, dass der Brauch bereits der Vergangenheit angehört. Doch nachdem sie Freundschaften vor Ort schließt und Menschen kennenlernt, wird ihr klar, dass dem nicht so ist. "Es ist überhaupt kein Geheimnis", erklärt die 44-Jährige der BRIGITTE im Interview. "Es wird im Land über Personen gesprochen, die geraubt wurden, oder über Männer, die geraubt haben." Es sei kein Tabu, aber es müsse noch viel passieren. Mit ihrer Arbeit über die Frauen in Kirgistan möchte sie ihnen eine Stimme geben. Vor Ort hat sie Betroffene getroffen, mit ihnen gesprochen und sie ebenso ihre Geschichten in eigenen Worten aufschreiben lassen. Schätzungen darüber, wie häufig Frauen ein Brautraub widerfährt, variieren stark.

Die Nichtregierungsorganisation "The Borge Project" schreibt in einem Artikel von 7.000 bis 9.000 Fällen pro Jahr, in denen auch Minderjährige involviert sind. Laut einem Bericht von UN Women sollen 13,8 Prozent der geschlossenen Ehen mit Frauen unter 24 Jahren durch Ala Kachuu entstanden sein (Stand: 2018). Irina Unruh möchte zu Beginn ihres Langzeitprojektes verstehen, wer die Menschen hinter diesen Zahlen sind und auf die persönliche Ebene schauen. Vor Ort merkt sie, dass die Frauen "den großen Wunsch hatten, dass ihre Geschichten erzählt werden".

BRIGITTE: Liebe Irina, du hast erzählt, dass viele Frauen in der Zeit ihres Studiums oder ihrer Ausbildung aus dem Leben, das sie kannten, gerissen werden. Wie ändert sich das Leben für diese Frauen?

Irina Unruh: Nach einem Brautraub ist die Frau tatsächlich oft komplett aus ihrem bekannten familiären und sozialen Umkreis rausgerissen. Vor allem dann, wenn sie weit weg verschleppt wird. Dann befindet sie sich teilweise in einer komplett neuen Gegend. Kirgistan ist zwar ein kleines Land, aber es ist landschaftlich sehr vielfältig. Der Süden Kirgistans ist ganz anders als Nordkirgistan, auch klimatisch. Das Leben kann sich für eine Frau teilweise um 180 Grad drehen.

Einige Frauen kennen die Männer überhaupt nicht, von denen sie entführt werden. Die Männer hingegen planen diese Tat sehr gründlich. Wie läuft das in der Regel ab?

Der Mann informiert sich sehr, sehr genau über die Hintergründe einer Frau: Darüber, aus welcher Familie sie stammt und wie der soziale Hintergrund dieser Familie ist. Teilweise erfahren Männer von anderen Familienmitgliedern von diesen Frauen, die oft ganz zerstreut in anderen Teilen Kirgistans leben. Es gibt Familien, die zwar im Süden leben, aber Verwandte in ganz anderen Teilen des Landes haben. Das ist ein ganzes Netzwerk, was dort entsteht, und keine Entscheidung, die willkürlich ist. Nach dem Motto: Ich fahre mit dem Auto, sehe ein junges Mädchen und nehme sie einfach mit. So läuft es nicht. Das ist tatsächlich eine sehr geplante Tat, bei der viele mit involviert sind und dazu beitragen.

Kommt es vor, dass die Frauen Menschen kennen, die in so einer Planung involviert waren?

Es gab mehrere Frauen, die mir erzählt haben, dass jemand aus ihrem Familienkreis oder Bekanntenkreis beteiligt war. Für diese Frauen ist es oft schwer zu verkraften, dass Menschen, denen sie vertraut haben, sie verraten haben. Das haben sie oft so zu mir gesagt.

"Iris narynensis" from I am Jamilia
"Mein Vater stimmte meiner Zwangsheirat zu, also musste ich dort bleiben. Es war sehr schwer, dieses Leben zu führen, das meinem Wunsch nicht entsprach. Letztendlich haben wir uns scheiden lassen. Momentan lebe ich mit meinen vier Kindern von ihm getrennt. Ich wünsche keiner anderen Frau ein Leben wie meins. Ich wünsche jungen Mädchen ein glückliches Leben zusammen mit einem geliebten Mann und den Kindern." – "Ferusa" (Name geändert)
© Irina Unruh

Du hast mit manchen Frauen viel Zeit verbracht, bei einigen hast du sogar übernachtet oder sogar im gleichen Zimmer geschlafen. Wie wichtig war es dir, Vertrauen aufzubauen?

Mir war es wichtig, dass sie wissen, wer ich bin und was meine Beweggründe sind. Ich habe den Frauen bei meinen Interviews viel Raum gegeben und sie entscheiden lassen, wie viel sie mir erzählen wollen. Ich habe mich auch viel mit dem Thema Traumata, Retraumatisierung und der Verarbeitung von Traumata beschäftigt. In Kirgistan gibt es kaum Möglichkeiten, sich psychologische Unterstützung zu holen, auch im Nachhinein nicht. Und deswegen wusste ich für mich, dass ich bei diesem Thema den Frauen die Wahl lassen wollte, wie sehr sie sich mit dem auseinandersetzen wollen, was ihnen passiert ist.

Dass du eine Frau bist, hat dieses Projekt dabei vermutlich erst möglich gemacht, oder?

Als Mann wäre das gar nicht möglich gewesen. Da hätte ich nicht in die Familien kommen, mich mit den Frauen treffen und so viel Zeit mit ihnen verbringen können. Und was auch geholfen hat, war, dass ich Kinder habe und selbst Mutter bin. Viele der Frauen sind Mütter und das war eine zusätzliche Ebene, auf der sie sich verstanden fühlten. Dass man Entscheidungen nicht nur für sich selbst, sondern auch gleich für die Kinder mittrifft, war auch ein Thema. Denn die Kinder waren oft ein Grund, warum einige Frauen geblieben sind. Manche haben ihren Mann zwar nie wirklich geliebt, aber es war für sie okay. Weil sie erlebt haben, dass ihre Kinder den Papa lieben. Sie waren in diesem Konflikt und haben dann für sich entschieden wegen der Kinder und auch oft der finanziellen Situation zu bleiben.

Eine Trennung gestaltet sich vermutlich oft schwierig.

Die Situation wird vor allem dadurch erschwert, dass die Frauen oft mitten in ihrer Schulausbildung, universitären Ausbildung oder Berufsausbildung geraubt werden. Darum haben sie nicht immer einen Abschluss, keine beruflichen Qualifikationen und müssten nach einer Trennung erst einmal schauen, wie sie eine Arbeit finden, die sie ausüben können. Manche Frauen können zurück zu ihrer Familie, aber nicht jede Familie akzeptiert das.

Hast du selbst mit Männern sprechen können, die ihre Frau geraubt hatten?

Ich habe tatsächlich mit einem Mann gesprochen, der seine Frau geraubt hat. Es lag lange zurück, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion und er selbst berichtete: Er ist mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass das normal ist und man das so macht. Er war recht ländlich aufgewachsen und mit dem Bewusstsein, dass es nicht wirklich eine andere Möglichkeit gibt. Aber er und seine Frau haben später, als ihre eigene Tochter geraubt wurde, sofort versucht sie zu finden und wieder nach Hause zu holen.

Es gibt also Männer, die aus ihrem Fehler und dem, was ihre Frauen erlebt haben, etwas gelernt haben.

Bei den Geschichten, die gut ausgegangen sind, waren es in der Regel Männer, die diesem Brauch einfach gefolgt sind, die aber an sich nichts Böses wollten. Es gibt aber auch Männer, die hohes Gewaltpotenzial haben und die die Frau als ihren Besitz ansehen. Die denken, dass eine Frau weniger wert ist und sie über ihr Leben entscheiden. Bei diesen Geschichten erzählten die Frauen auch oft von Gewalt in der Ehe. Wenn eine Ehe so beginnt, kann man sich ausmalen, was danach folgt. Das ist im Grunde nur der Anfang einer großen Spirale der Gewalt. 

Aber eine Frau, mit der ich gesprochen habe, hat ihren Mann auch lieben gelernt. Sie sagte: "Irina, meine Ehe hat mit einem tragischen Jahr angefangen. Meine Ehe hat mit Leid angefangen und sie hörte mit Leid auf" – nämlich als ihr Mann, den sie lieben gelernt hatte, nach 30 Jahren Ehe starb. Sie sagte, das Leid am Ende hat sie als schlimmer empfunden. Aber ganz klar ist: Es ist eine Menschenrechtsverletzung und daran gibt es nichts zu rütteln. Und alle Frauen selbst sagten: Ihnen ist Leid wiedererfahren.

"Primula turkestanica" from I am Jamilia
"Ich denke, mein Leben mit meinem Mann war glücklich. Aber der Anfang war sehr schwierig: Eine neue Familie, ein neues Leben, als er mich entführte. Aber es war unsere Tradition. Wenn eine Frau einem Mann gefiel, entführte er sie. Nach einem harten Jahr des Zusammenlebens begann ich, mich an ihn zu gewöhnen und meinen Mann zu lieben. Wir haben 30 Jahre glücklich zusammengelebt und haben drei wunderbare Töchter bekommen, wofür ich meinem Mann dankbar bin. Vor fünf Jahren haben wir ihn verloren und es war eine Herausforderung für mich, ohne ihn zu leben." – "Elira" (Name geändert), geraubt im Jahr 1986 im Alter von 20 Jahren (noch während der Sowjetunion)
© Irina Unruh

Einen Schutz vor Brautraub gibt es nicht

Wie Irina mir im Interview erzählt, ist der Brautraub in Kirgistan durch viele verschiedene Faktoren bedingt. Wichtige Komponenten sind beispielsweise das Brautgeld, das bei einer Hochzeit bezahlt werden muss. Da Kirgistan ein sehr armes Land ist, ist die Praktik oft ein Weg, um es niedriger zu halten. Denn bei einer unter normalen Umständen geschlossenen Ehe entscheidet die Familie der Braut über das zu entrichtende Geld. Nach einem Brautraub ist es andersherum und die Familie des Ehemanns entscheidet, wie viel sie zahlt. Laut dem internationalen humanitären Verein Humanium ist Kirgistan das zweitärmste Land in Zentralasien. Dass die Praktik des Brautraubs noch lebt, ist also vor allem auch ein strukturelles Problem.

Da Männer die Tat oft planen, ohne die Frau persönlich zu kennen, ist sie nie wirklich sicher – außer sie ist bereits verheiratet. Bei einer Familie, die Irina besuchte, wurde die Schwiegertochter aus der Beziehung mit ihrem Sohn heraus geraubt. Die Familie rettete die junge Frau aus der Situation. "Sie waren noch recht jung und hatten noch nicht geplant zu heiraten, aber als sie zurückgeholt wurde, war er völlig entsetzt und geschockt", erklärt mir Irina, "und das Paar hat sich dann entschieden, recht kurz danach zu heiraten, damit sie geschützt ist und nicht einen weiteren Brautraub erlebt."

Eine andere Frau sagte ihr, dass sie permanent ihre Umgebung beobachte, wenn sie allein draußen sei. Dass eine Frau nicht einfach mit Freund:innen ins Café gehen könne und dabei keine Angst haben müsse, sei einfach noch die bittere Realität, so Irina.

"Dictamnus angustifolius" from I am Jamilia
"Die Entführung der Braut hinterlässt eine tiefe Wunde im Herzen jeder Frau. Es hat einen ewigen Schmerz in meiner Seele hinterlassen und mein Herz ist gebrochen", erklärt eine der betroffenen Frauen der Fotografin Irina Unruh. "Ich wünschte, kein Mädchen hätte solche Wunden in der Seele." – "Munara" (Name geändert) wurde noch vor ihrem 18. Lebensjahr entführt und in die Ehe gezwungen.
© Irina Unruh

BRIGITTE: Seit dem Beginn deines Projekts im Jahr 2018 hat sich bereits vieles getan. Inwiefern hast du in den vergangenen Jahren gemerkt, dass ein Umdenken stattfindet?

Irina Unruh: Es wird inzwischen ziemlich viel gemacht. UN-Women ist zum Beispiel sehr aktiv in Kirgistan. Nach dem Fall der 20-jährigen Burulai im Jahr 2018, die von einem Mann entführt und im Gewahrsam der Polizei erstochen wurde, gab es eine ganz, ganz große Aufklärungskampagne. Über das öffentliche Fernsehen liefen kleine Reportagen oder Informationsfilme. Und es gab Demonstrationen zu der Zeit. Viele Menschen sind auf die Straße gegangen, nicht nur Frauen.

Also haben Extremfälle wie dieser bereits zu einem gewissen Umdenken geführt?

Bis zu dem Zeitpunkt war teilweise in den ländlichen Regionen gar nicht bekannt, dass der Brautraub offiziell eine Straftat ist. Und 2021 gab es einen weiteren sehr tragischen Fall, der international bekannt wurde – und bei dem wieder die Polizei involviert war. Die Frau war 27, schon im Berufsleben und auf dem Weg zur Arbeit und sie wusste, dass es jemanden gibt, der sie beobachtet beziehungsweise stalkt. Die Entführung wurde sogar zufällig gefilmt, weil es in der Nähe eines Parkplatzes passierte.

Ihre Mutter hatte recht schnell erfahren, dass sie nicht bei der Arbeit angekommen war. Wenn eine Frau irgendwo nicht ankommt, wird sofort geguckt: Woran könnte das liegen? Ihre Mutter hat sehr schnell die Polizei angerufen, aber die soll es überhaupt nicht ernst genommen haben. Sie sollen gelacht haben und gesagt haben, sie solle sich freuen, dass sie bald auf der Hochzeit ihrer Tochter tanzen kann. Zwei Tage später wurde das Auto zufällig mit zwei Leichen entdeckt. Er hat sie wohl erdrosselt und sich danach selber erstochen. Die Polizei wurde damals stark kritisiert und der Rücktritt des Innenministers gefordert. Die Polizei wiederum hat behauptet, sie hätten alles Erdenkliche getan, was aber nur schwer zu glauben war.

"Myosotis krylovii" from I am Jamilia
"Ich denke, Ala Kachuu ist das Schlimmste auf der Welt. Weil es schmerzhaft ist, mit der Person zu leben, die man zuvor nicht gesehen und gekannt hat. Eventuell bekommt man Kinder und wird sich daran gewöhnen. Ich habe nicht erlebt, was Liebe ist. Ich habe sieben Kinder mit meinem Mann. Unsere Kinder sind nun Erwachsene und das Leben ist unmerklich vergangen. Später, als die Kinder groß wurden, wurde alles gut. Unsere Kinder haben eine gute Ausbildung und arbeiten." – Bubunai (†) erzählte Irina ihre Geschichte im Alter von 86 Jahren und verstarb wenige Monate nach der Begegnung. Sie wurde mit 17 geraubt und in die Ehe gezwungen. Sie selbst war stolz, dass alle ihre sieben Kinder nach eigenem Wunsch geheiratet hatten und weder geraubt wurden, noch geraubt hatten.
© Irina Unruh

Inwiefern hat sich das Land inzwischen weiterentwickelt?

Ich glaube, dass das Land gerade vor großen Herausforderungen steht, um Tradition und Moderne in Einklang zu bringen. Vieles ist im Umbruch, vieles schwankt. Es gibt viele Familien, die sehr darum bemüht sind, dass die Mädchen eine gute Ausbildung bekommen, und es gibt inzwischen zum Beispiel in Bischkek mehrere Privatschulen, auf die Jungen und Mädchen gehen. Und die jungen Kirgisen und Kirgisinnen sind sehr aktiv auf Social Media. Ich habe schon das Gefühl, dass gerade die junge Generation neue Werte für sich entwickelt.

Die Frauen selbst haben dabei sicherlich einen großen Anteil, indem sie ihre Geschichten erzählen.

Für mich sind es gerade diese Frauen, die darüber sprechen, die ihre Kinder bewusst so erziehen, dass Ala Kachuu nicht tolerierbar ist. Das sind für mich die Frauen, die die Veränderung im Land vorantreiben. Ich sehe sie als diejenigen, die dafür sorgen, dass es nicht mehr fortgeführt wird und die den Kreis durchbrechen. Vor allem, wenn sie offen darüber sprechen, was es mit ihnen gemacht hat und wie lang diese Verletzungen sich durch ihr Leben gezogen haben. Von daher sind sie für mich wirklich die Heldinnen, die starken Frauen.

Verwendete Quelle: Human Rights Watch, Humanium, Deutsche Welle, World Press Photo Ausstellung Oldenburg, Terre des Femmes, UN Women, The Borgen Project

Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel