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"Ich möchte lieber nicht" Warum wir Wut und Negatives im Leben brauchen

Juliane Marie Schreiber
Juliane Marie Schreiber
© Juliane Marie Schreiber
"Ich möchte lieber nicht" – eine klare Aussage, die wir in unserer Gesellschaft deutlich ernster nehmen sollten. Juliane Marie Schreiber spricht in ihrem Buch darüber, warum positives Denken uns nicht weiterbringt, schimpfen aber schon. Die BRIGITTE hat mir ihr über das Positive am Negativen gesprochen.

BRIGITTE: In einem Interview sprachen Sie darüber, dass es eine Situation im Pflegeheim Ihrer Großmutter gab, die Sie nicht vergessen konnten und die somit ein Grund dieses Buches war.

Juliane Marie Schreiber: Das war ein Schlüsselmoment, ja. Ich war zu Besuch bei meiner Oma und in ihrem Zimmer lag noch eine andere Dame, die ganz alt und gebrechlich war und tatsächlich im Sterben lag. Ihr wurde von einem Angehörigen gesagt: Wenn du nur mehr positiv denkst, dann wirst du auch von den Pflegern besser behandelt. Das fand ich ganz schlimm. Ich habe auch lange nicht verstanden, warum es mich in dem Moment so wütend gemacht hat, aber es ist genau das, was ich in meinem Buch beschreibe: All die Probleme in der Gesellschaft selbst, wie hier der Pflegenotstand, werden auf diese alte Dame geschoben – wofür sie als Individuum ja nichts kann. Im Zweifelsfall geht es der Person noch schlechter, weil sie sich selbst Vorwürfe macht, dass sie an ihrem Leid selbst schuld ist. Das ist reine toxische Positivität.

Und genau darum soll es auch gehen in ihrem Buch "Ich möchte lieber nicht", welches derselbe Titel des deutschen Werkes von Herman Melville ist. Warum haben Sie sich genau für diesen Titel entschieden?

Weil der Titel noch einmal diese Gegenhaltung betont. Dass man gegen den Strom schwimmt. Der Hauptcharakter in Melvilles Buch Bartleby ist natürlich ein extremes Beispiel, weil er ja alles verweigert hat, sogar Nahrung, bis er am Ende stirbt. Das soll überhaupt kein Vorbild sein. Aber dieses ikonische "ich möchte lieber nicht" oder auf Englisch "I would prefer not to", das fand ich so ikonisch und in diesem System der Verweigerung so interessant, dass ich mich dafür entschieden habe. Wichtig war auch, dass der Titel ohne das Wissen über Bartleby funktioniert. Ich wollte ein Statement gegen diese Glücks-Ratgeber setzen, die ständig sagen, du musst dies oder jenes tun, um die beste Version deiner selbst und um glücklich zu sein. Meine Antwort lautet: Ich möchte lieber nicht.

Was bedeutet denn Glück eigentlich für Sie?

Ich grenze Glück im Buch klar von Zufriedenheit ab. Zufriedenheitsmomente entstehen zum Beispiel, wenn Pläne aufgehen, an denen man lange gearbeitet hat. Das ist aber etwas, was nicht aus dem Nichts kommt, sondern die Frucht langer Arbeit ist. Glück ist dagegen eher wie Fastfood: der schelle Kick – und danach hat man oft Sodbrennen.

Ich kenne von meinen Großeltern noch den Spruch: „Aus Fehlern lernt man.“ Und es steckt ja auch immer ein bisschen Wahrheit darin. Jetzt wird dieser einfache Spruch von früher jedoch mittlerweile so vermarktet, dass daraus ein ganzer Wirtschaftszweig entstanden ist.

Das zielt ja auf das Thema„Scheitern als Chance“ ab. Ich würde es aber abgrenzen von dem, was die Großeltern meinten. Die meisten kamen aus Armut und haben den Krieg erlebt, sie mussten sich aufraffen und durften die Hoffnung nicht verlieren, dem würde ich absolut zustimmen. Das, was wir jetzt erleben, dieses ganze Scheitern-als-Chance-Mantra, das passiert in einer Zeit, in der es uns sehr sehr gut geht. Unsere Großeltern kamen aus einem Leid heraus und wollten auf ein normales Level zurück. Aber dieses normale Niveau von Zufriedenheit zählt heute kaum noch. Uns wird eingeredet, dass wir noch mehr aus uns machen sollten, dass wir noch besser sein können, wir sollen überglücklich sein.

Aber ist Wachstum nichts Gutes?

Grundsätzlich ist Wachstum nicht schlecht. Aber es gibt so viele Schicksalsschläge und Ungerechtigkeiten in der Welt, für die man überhaupt nichts kann und aus denen erwächst dann auch nicht unbedingt etwas Gutes. Ständig hört man, dass Krankheiten Chancen seien oder sogar die Corona-Pandemie. Das kommt an so eine ganz merkwürdige Grenze, weil eben nicht aus allen schlimmen Dingen etwas Gutes entsteht. Manche Dinge sind einfach für sich schlecht. Wir können zum Beispiel den aktuellen Krieg in der Ukraine nicht einfach als Chance umdeuten. Ganz im Gegenteil: das ist zynisch. Und zeigt, wie tief verwurzelt die Idee des bedingungslosen Wachstums in unserer Gesellschaft ist

Worin liegt das Problem genau?

Wir leben in einem neoliberalen System, in dem einzelnen Personen zu viel aufgebürdet wird. Da gibt es eine enge Verbindung zur Idee des Leistungsgedankens: „Jeder bekommt das, was er aus seiner eigenen Kraft heraus verdient“. Das zeigt ja auch dieser Spruch: Du kannst alles sein, wenn du nur genug an dich glaubst. Und das stimmt so einfach nicht. Denn er ignoriert komplett die ungleichen Chancen von Menschen – die soziale Herkunft, das Elternhaus, die Bildungschancen. Wir leben in einer Zeit, in der wir versuchen, die Dinge immer sehr psychologisch zu begreifen und daher denken wir: Wer es geschafft hat, der hat sich sehr angestrengt. Daraus ziehen viele dann den falschen Umkehrschluss: Wer es nicht geschafft hat und arm ist, der hat sich eben nicht genug angestrengt. Und das ist einfach eine ganz falsche Abzweigung der Gesellschaft, die uns kaltherzig werden lässt, weil wir denken, dass jeder sich sein Unglück oder sein Leid selbst verdient hat.

Ein Kapitel Ihres Buches heißt: Pessimisten leben länger. Warum ist das so?

Das hat mich selbst auch überrascht. Es ist noch immer so das pessimistische oder leicht melancholische Menschen eine Randgruppe der Gesellschaft ausmachen und dass sie angeblich die Welt verzerrt sehen würden. Aber wenn man in die Forschung schaut, dann sieht man, dass es genau andersrum ist und die Optimisten mit einer rosaroten Brille rumlaufen und sich selbst täuschen. Sie leben eher nach dem Prinzip: Das haben wir doch schon immer so gemacht – wird schon klappen. Sie überschätzen sich und ihr Handeln, sind mit sich selbst kaum kritisch und anfälliger für Vorurteile. Pessimisten sind vorsichtiger und haben zum Beispiel weniger gefährliche Hobbys wie Wingsuitfliegen. Manchmal sind Zweifel also gut und angebracht. Sie sind nicht nur wichtig, sondern bringen uns zu neuen Erkenntnissen. Es geht dabei nicht um Personen, die konstant über etwas nörgeln, sondern um solche, die lieber noch einmal überprüfen, ob das Handeln hier gerade richtig war.

Wir haben jetzt viel über das Negative am Positiven gesprochen, was wir aber vergessen ist, dass es auch viel Positives am Negativen gibt. Das erste Beispiel, welches Sie nennen, ist der Schmerz, ob körperlich oder seelisch. Er ist wie ein Schutzmechanismus für uns. Häufig lassen wir ihn aber nicht zu, warum ist das so?

Ohne diesen Schutzmechanismus würden wir schlicht nicht überleben. Ohne Schmerzempfinden würden wir keine Grenzen kennen, uns die Knochen brechen und die Hände an der Herdplatte verbrennen. Und er ist ein guter Motivator, unsere Wunden zu heilen. Der Körper warnt uns mit Schmerz, einen gebrochenen Fuß lieber noch nicht zu belasten und ihm die Ruhe für die Heilung zu geben. Man muss aber auch sagen, dass es Schmerzen gibt, die erst mal keine Funktion haben, wie zum Beispiel Migräne.

Seelischer Schmerz ist aber auch ein Schutz.

Ja, Trauer ist da ein gutes Beispiel, weil sie uns hilft, mit dem Leid umzugehen. Es öffnet ein Ventil, alles kommt erst einmal heraus. Und Trauer hat auch eine sehr wichtige soziale Funktion, sie zeigt anderen, dass man Hilfe und Zuwendung braucht. Aber wir leben eher in einer Palliativgesellschaft – wir vermeiden den Schmerz. Wir wollen ihn auslagern, weil er unangenehm ist. Aber das kann gefährlich sein. Körperlich kann die andauernde Eindämmung von Schmerzen mit Tabletten zu Folgeschäden führen. Und auch gesellschaftlich halten wir kaum noch Reibung aus, es ist alles weichgebettet, wie in einer Comfort Lounge. Die sollten wir schnell wieder verlassen.

Was können Folgen dieser Verdrängung sein?

Ein gutes, aber auch heftiges Beispiel ist die Opioid-Krise in den USA. Verdrängen wir körperlichen Schmerz mit den falschen Tabletten, kann es zu Abhängigkeiten kommen und zu dauerhaften körperlichen und seelischen Schäden. Gesellschaftlich zeigt sich die Komfortkultur auch darin, dass wir es nicht mehr aushalten, wenn andere eine andere Meinung haben. Auch die Pandemie ist da ein gutes Beispiel: Die Welt war nicht vorbereitet, weil wir gar nicht mehr in der Lage sind, an Worst-Case-Szenarien zu denken. Wir sind immer zu optimistisch. Man hätte dieses Ausmaß sicher nicht vorhersehen können, aber vor ähnlichen Szenarien wurde ja bereits vor der Pandemie gewarnt. Dabei geht es nicht darum, aus der Angst heraus zu handeln, sondern einfach vorbereitet zu sein. Stattdessen haben wir wieder begonnen, das „Gute“ aus der Pandemie zu suchen. Wer nicht drei neue Fremdsprachen gelernt hat, hat seine Zeit nicht produktiv genutzt. Da hat sich dieser Glücksterror noch einmal deutlich gezeigt. Wieder wurde das Individuum dafür verantwortlich gemacht, die Situation zu meistern. Dabei wäre die richtige Borschaft gewesen: Nein, es ist eine Pandemie, in der Menschen sterben, ich muss jetzt nicht produktiv sein.

Negative Gedanken und Gefühle kennt wahrscheinlich jede:r aber wir Menschen wollen sie nicht haben und schieben sie gerne von uns weg. Sie schreiben aber, dass wir diese schlechten Gefühle brauchen, um uns weiterzuentwickeln.

Es muss viel mehr thematisiert werden und wir sollten darüber sprechen dürfen, wenn es uns nicht gut geht. Wichtig ist, dass wir uns klar machen, dass Tod und Leid zur menschlichen Existenz dazugehören und dass man das Negative wieder mehr zulässt. Aber wir leben in einer Gesellschaft, in der das aktive Handeln belohnt wird. Passiv zu erleidende Schicksalsschläge sind für Menschen immer schwer zu ertragen, zum Beispiel das jemand tödlich erkrankt. Dieser beliebte Mechanismus von: "Es sollte so sein" oder "alles hat seinen Sinn" verdrängt nur, dass Leid einfach Teil unserer Existenz und oft sogar sinnlos ist. Dabei geht es aber nicht darum, jedes Leid hinzunehmen. Ungerechtigkeiten oder Diskriminierungen kann und sollte man gesellschaftlich bekämpfen.

Das Negative muss auch mal raus und in ihrem Buch schreiben Sie von einer Untersuchung, wo herausgefunden wurde das Schimpfen den Schmerz ein bisschen lindern kann.

Ja, man hat herausgefunden, dass Schimpfen ein natürliches Schmerzmittel ist. Der Körper kommt so in einen Kampfmodus. Das ist auch der Grund, warum Frauen bei der Geburt laut sind, schreien und fluchen – denn so können sie die Schmerzen besser ertragen.

Doch nicht nur Schmerz muss raus, auch die Wut müssen wir verarbeiten.

Wut ist auch etwas, das bei vielen verpönt ist, aber eigentlich zeigt es erstmal nur an, dass etwas falsch läuft. Gerade politisch ist das wichtig. Gemeinsames Schimpfen ist Bedingung dafür, politisch und gesellschaftlich etwas zu verändern. Denn nur wenn ich sehe, dass die anderen das gleiche Problem haben, kann ich erkennen, dass ich vielleicht gar nicht schuld bin, sondern das Problem in der Gesellschaft selbst liegt. Erst dann kann ich gemeinsam mit anderen Veränderungen anstreben. Ohne die Wut der Suffragetten zum Beispiel hätten wir überhaupt kein Frauenwahlrecht. Und das waren eben nicht glückliche Frauen, die nur ihre Perspektive hätten ändern müssen, sondern wütende Frauen, die auf die Straße gingen und dafür gekämpft (und gelitten) haben, dass alle Frauen wählen dürfen.

Und das ist ja eigentlich überall die Grundlage, ob auf politischer oder gesellschaftlicher Ebenen. Veränderung kommt nur dadurch, dass ein Zustand nicht mehr tragbar ist.

Ja, das gilt für alle großen Emanzipationsbewegungen und politischen Proteste. Von der Ehe für alle bis hin zu Fridays for Future. Aber auch der Mauerfall, wo die Menschen Unmut gespürt haben. Wichtig ist allerdings zu unterscheiden, ob die Wut berechtigt ist. Weil es natürlich auch Wut-Bewegungen gibt, die moralisch nicht vertretbar sind, Stichwort "Querdenker-Demos"/Pegida.

Wir wären in der Gesellschaft also nicht weitergekommen, wenn wir nur noch positiv gedacht hätten?

Nein, unser heutiger Lebensstandard gründet sich eigentlich auf die Unzufriedenheit unserer Vorfahren.

Also könnten wir zusammenfassen, dass das Negative ein Motor für eine gesellschaftliche Entwicklung ist, oder?

Ja, auf jeden Fall. Um die Dinge zu ändern, muss man die Probleme erst einmal ehrlich benennen dürfen. Denn das hält uns die Möglichkeit offen, Veränderungen vorzunehmen, auch wenn das manchmal schwierig ist. Das Negative zu ignorieren, ist dagegen nicht die richtige Entscheidung. Deswegen ende ich im Buch auch mit dem Zitat: "Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens". Das fand ich sehr passend, denn es meint, dass man geduldige und nüchterne Menschen schaffen muss, die nicht verzweifeln an den größten Schrecken dieser Welt und sich aber auch nicht von jeder Dummheit begeistern lassen. Man sollte sich eine mürrische Gelassenheit bewahren, um in so einem rationalen Modus die Dinge besser entscheiden zu können.

Sind Sie selbst denn eher Optimistin oder Pessimistin?

Ich selbst bin eher ein melancholischer Mensch, eine "depressive Realistin" wie es in der Forschung heißt. Jetzt, da ich mein Buch geschrieben habe, kann ich mein Naturell besser akzeptieren, anstatt es wegschieben oder verändern zu wollen. Es gibt so einen gewissen angeborenen Korridor: Die einen sind eher glücklich und optimistisch, die anderen vielleicht eher melancholisch und kritisch. Man kann sich zwar etwas nach rechts oder links bewegen, aber der Korridor bleibt bestehen. Und ich möchte nicht immer die beste Version meines Selbst und überglücklich sein. Ich möchte manchmal einfach lieber nicht.

Ich möchte lieber nicht – eine Rebellion gegen den Terror des Positiven Juliane Marie Schreiber Piper Verlag 2022 Taschenbuch 16,00 Euro
Ich möchte lieber nicht – eine Rebellion gegen den Terror des Positiven
Juliane Marie Schreiber
Piper Verlag 2022
Taschenbuch 16,00 Euro
© Juliane Marie Schreiber
Brigitte

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