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"Heimat ist für mich ein Gefühl"

Das Dschungelkind gibt es wirklich. Aber es heißt nicht Mogli, sondern Sabine Kuegler. Mit fünf Jahren zog sie als Tochter deutscher Sprachforscher und Missionare in den Urwald von West-Papua (Indonesien). Dort lebte sie mit dem Fayu-Stamm, der für Kannibalismus und unvorstellbare Brutalität bekannt ist. Sie selbst beschreibt diese Zeit jedoch als die glücklichste ihres Lebens. Erst mit 17, als sie auf ein Schweizer Internat geschickt wird, lernt sie zum ersten Mal Angst kennen. Mit Brigitte.de sprach die 32-Jährige über ihr Leben im Dschungel und wie schwierig es ist, heute in der westlichen Welt zurechtzukommen.

Brigitte.de: Als Ihre Eltern sich 1980 entschieden, mit Ihnen in den Dschungel zu ziehen – wie haben sie Ihnen erklärt, was sie dort machen werden?

Sabine Kuegler: Eigentlich gar nicht. Wir haben aber auch nie gefragt. Ich glaube, wenn man Kinder fragt "Möchtest du im Urwald leben oder in einer Großstadt?" würden sich die meisten für den Urwald entscheiden. Davon träumt doch jedes Kind. Man kann den ganzen Tag draußen spielen, schwimmen gehen und auf Bäume klettern. Das ist einfach eine schöne Kindheit.

Brigitte.de: Wie muss man sich Missionarsarbeit vorstellen?

Sabine Kuegler: Heute arbeiten Missionare ja nicht mehr so wie früher, als man die Bibel hochhielt und alle vom rechten Glauben überzeugen wollte. Missionare sind sehr gebildete Menschen: Ärzte, Anthropologen, Sprachforscher, die noch zusätzlich einen Glauben haben. Die Fayu zum Beispiel glauben nur an böse Geister. Die Vorstellung von einem guten Geist oder Gott existierte nicht. Da hat mein Vater ihnen erzählt, dass wir glauben, dass es auch einen guten Geist gibt. Das fanden sie interessant. Heute gibt es Fayu, die daran glauben, und welche, die nicht daran glauben.

Brigitte.de: Der Stamm, bei dem Sie aufgewachsen sind, gilt als sehr gewalttätig und ist sogar als kannibalistisch bekannt. Hatten Sie nie Angst vor diesen Menschen?

Sabine Kuegler: Nein, interessanterweise hat mir das keine Angst gemacht. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich sicher bin. Ich wusste, dass die Fayu uns Kinder sehr mochten und auf jeden Fall beschützt hätten und ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals bedroht wurde. Untereinander waren die Fayu natürlich schon brutal, denn zwischen den Stämmen herrschte ein Blutrachesystem, das einem befahl, jeden Tod des eigenen Stammes durch einen Toten eines verfeindeten Stammes zu rächen. Aber da unsere Familie nicht unter dieses System fiel, hatten wir nichts zu befürchten. Ich habe später mit anderen Menschen geredet, die ähnlich aufgewachsen sind. Sie haben mir bestätigt, dass man solche Dinge als Kind nicht hinterfragt. Es ist Teil der Natur. Erst als Erwachsener beginnt man, sich darüber genauer Gedanken zu machen. Die meisten Ängste entwickeln sich ja erst viel später im Leben.

Brigitte.de: Was hat Ihnen denn Angst gemacht?

Sabine Kuegler: Das einzige, was uns regelmäßig Sorgen gemacht hat, waren die Wildschweine, die oft aus dem Dschungel herauskamen. Weil sie sehr schnell und gefährlich waren, haben wir uns immer in der Nähe von Bäumen aufgehalten, auf die wir dann schnell klettern konnten. Vielleicht hatten wir aber auch insgesamt so wenig Angst, weil meine Eltern keine Angst hatten. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter uns jemals vor einem Tier gewarnt hätte. Ich glaube, wir wussten da mehr als unsere Eltern.

Brigitte.de: Sie beschreiben sich selbst ja auch als unglaublich tierlieb und haben sogar Insekten und Spinnen gesammelt. Wie viele Tiere haben Sie heute?

Sabine Kuegler: Leider keins. Ich wünsche mir so sehr einen Bauernhof, aber im Moment wohne ich noch in einer kleinen Wohnung in einem Dorf in der Nähe von Buxtehude. Aber meine Wohnung ist nicht für Tiere geeignet ist.

Brigitte.de: Bei den Fayu lebten Sie vollkommen abseits der Zivilisation. Gibt es trotzdem deutsche Traditionen, die Ihre Eltern im Dschungel gepflegt haben?

Sabine Kuegler: Hauptsächlich die deutsche Sprache, auch in Form von alten Volksliedern wie "Der Mond ist aufgegangen". Ein bisschen haben sie auch versucht, uns Manieren beizubringen. Zum Beispiel, dass wir mit Messer und Gabel essen konnten, oder dass wir am Tisch sitzen. Aber irgendwann haben sie es aufgegeben.

Brigitte.de: Gibt es umgekehrt Bräuche, die Sie von den Fayu übernommen und bis heute beibehalten haben?

Sabine Kuegler: Nur sehr wenige. Ich esse noch immer gerne auf dem Boden mit meinen Kindern, einfach, weil es bequemer ist. Wir haben auch keine regulären Mahlzeiten. Wir essen, wenn wir Hunger haben. Das ist ja auch nicht sehr deutsch, habe ich gehört.

Brigitte.de: Als Sie zwölf waren, sind Sie mit Ihrer Familie für einige Zeit nach Deutschland zurückgekehrt. Wie haben Sie die Zeit empfunden?

Sabine Kuegler: Wir wollten eigentlich nur für ein Jahr auf Heimaturlaub gehen, um Freunde und Familie zu treffen. Aber dann haben sich meine Eltern entschieden, die Organisation zu wechseln und es war sehr schwierig, ein neues Arbeitsvisum zu bekommen. So mussten wir noch ein weiteres Jahr warten. Wir haben wirklich nur dagesessen und gewartet. Jeden Tag. Das war sehr schwer für uns. Meine Eltern haben außerdem darauf geachtet, dass wir uns nicht zu sehr integrieren. Wir wussten ja, dass wir zurückgehen würden, und sie wollten uns den Abschiedsschmerz ersparen.

Brigitte.de: Nach der Zeit in Deutschland – zurück in Indonesien – haben Sie den Weg zurück ins Dschungelleben nicht mehr so richtig gefunden.

Sabine Kuegler: Die erste Zeit ging es noch, aber dann mit sechzehn fing es an. Ich glaube, es hing viel mit der Pubertät zusammen, in die ich erst spät kam. Da fühlt man sich ja sowieso sehr verloren. Ich wusste nicht mehr genau, wo ich hingehörte. Ich musste monatelang in der Hauptstadt bleiben, um zur Schule zu gehen, und war nur noch in den Ferien im Dschungel. Damals lebte ich zwischen zwei Welten und hatte immer mehr das Gefühl, dass ich etwas mit meinem Leben machen musste. Ich begann, vieles in Frage zu stellen und habe mich zum ersten Mal als Fremde gefühlt. Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich weiße Haut habe und eigentlich nicht in den Dschungel gehöre. Ich habe erst später erkannt, dass das eigentlich eine typische Teenagersache war, durch die man einfach durch muss.

Brigitte.de: Mit 17 schickten Ihre Eltern Sie zurück nach Europa, in ein Schweizer Internat. Wie kam es dazu?

Sabine Kuegler: Ich war sehr zerrissen in dieser Zeit. Das merkten auch meine Eltern. Natürlich musste ich mich irgendwann an die Zivilisation gewöhnen. Ich konnte ja nicht ewig im Dschungel leben. Mein Onkel machte dann den Vorschlag, mich auf ein Schweizer Internat zu schicken. Also habe ich mir eins ausgesucht und bin dann nach Montreux gegangen. Meine ältere Schwester hatte den Dschungel schon ein Jahr zuvor verlassen und auch mein jüngerer Bruder ging bald fort. Es war der richtige Zeitpunkt zu gehen, aber das Leben in Europa war nicht gerade einfach für mich.

Brigitte.de: Was war so schlimm hier?

Sabine Kuegler: Es war eine andere Kultur mit anderen Menschen. Hier ging man durch die Straßen und sah niemanden an. Neben den Nachbarn lebte man jahrelang und sagte nur hallo und tschüss. Das kannte ich nicht. Ich bin ja in einer Welt aufgewachsen, in der die Türen nie abgeschlossen waren. Es herrschte eine wahnsinnige Gastfreundschaft und man teilte alles. Die Welt hier war für mich sehr verschlossen und unheimlich.

Brigitte.de: Was empfinden Sie denn als besonders verstörend in der westlichen Welt?

Sabine Kuegler: Die Hektik. Ich vermisse die Ruhe. Außerdem habe ich große Probleme mit der Aggressivität der Menschen. Natürlich waren die Fayu auch ein gewalttätiges Volk, aber anders. Hier ist die psychische Gewalt viel größer. Man sagt mir immer, ich solle mir eine dickere Haut anschaffen, aber ich weiß nicht wie. Man wird angegriffen und kritisiert. Was man macht, wird niedergeschmettert. Ich verstehe nicht, wie Menschen mich angreifen können, die ich gar nicht kenne.

Brigitte.de: Sie hatten ja im Internat ein paar gute Trainerinnen, die Sie auf das Leben hier vorbereitet haben. Was haben die Ihnen beigebracht?

Sabine Kuegler: Eigentlich alles: Wer ist wer, was tut man nicht, was sagt man nicht. Zum Beispiel, dass man nicht alle Leute auf der Straße grüßt oder, dass man skeptisch sein muss. Sabine, du bist zu freundlich, haben sie mir immer gesagt.

Brigitte.de: Wann haben Sie sich dann entschieden, in Deutschland zu leben?

Sabine Kuegler: Ich habe lange in der Schweiz gelebt und auch zwei Jahre in Japan. In Deutschland bin ich aus verschiedenen privaten Gründen erst seit zwei Jahren. Ich war zweimal verheiratet und habe vier Kinder. Meine ältesten sind 13 und 11 und leben bei ihrem Vater in der Schweiz. Die kleinen sind vier und drei und leben bei mir.

Brigitte.de: Würden sie ihre Kinder im Dschungel aufwachsen lassen?

Sabine Kuegler: Ich würde sie auf jeden Fall dort aufziehen. Die Großen natürlich nicht. Die sind schon zu alt, um sich umzustellen. Ob ich es tue, weiß ich noch nicht. Wenn meine Kinder mal aus dem Haus sind, könnte es schon sein, dass ich zurückgehe. Vielleicht nicht in den richtig tiefen Urwald, aber zumindest in die Gegend. Aber das ist natürlich alles nur eine Wunschvorstellung. In Europa bin ich nur meiner Kinder wegen.

Brigitte.de: Was ist das Wichtigste, das Sie im Dschungel gelernt haben?

Sabine Kuegler: Toleranz und offenes Denken.

Brigitte.de: Gibt es irgendetwas, das jeder von uns dort lernen könnte?

Sabine Kuegler: Mehr Ruhe zu finden. Man fühlt sich hier immer verpflichtet, irgendetwas zu machen. Es wäre gut zu lernen, sich hinzusetzen und einfach mal nichts zu tun. Die Menschen sind unfähig, nichts zu tun. Durch die Fayu habe ich das gelernt. Ich kann mich bis heute hinsetzen und problemlos vier Stunden auf einen Zug warten oder ein Flugzeug. In Amerika musste ich mal acht Stunden auf meinen Flug warten. Da hab ich mich hingesetzt und nichts getan. Acht Stunden lang. Für mich ist das wie Meditation.

Brigitte.de: Wenn Sie nach West-Papua zurückgehen würden, was würden Sie dort machen?

Sabine Kuegler: Ich würde gerne unterrichten. Es gibt dort viel zu tun. Ich war seit 15 Jahren nicht mehr dort. Wenn ich im Sommer für einen Monat zurückgehe, werde ich mir alles noch einmal ansehen. Dann werde ich sicher endlich wissen, ob ich dort hingehöre oder mit der Sache abschließen kann. Außerdem möchte ich einen Dokumentarfilm über dieses Gebiet drehen. Als Anschluss an dieses Buch möchte ich zeigen, wie es ist, wenn ich dahin zurückkehre. Ich habe eine eigene Produktionsfirma gegründet, weil ich die Kontrolle haben möchte über all das, was dort geschieht. Ich will die Menschen und das Gebiet schützen.

Kurzinfos

Sabine Kuegler Dschungelkind 352 Seiten, 19.90 EUR Hardcover, Droemer/Knaur ISBN: 3426273616

Hörbuch "Dschungelkind" 3 CDs Gesamtlaufzeit ca. 220 min. ISBN 3-8291-1525-3 unverbindliche Preisempfehlung € 21,- Deutsche Grammophon Literatur

Interview: Maike Dugaro

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