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"Generation Porno": Wie verroht ist unsere Jugend?

In der ARD-Doku "Letzter Halt Sex - Kids am Abgrund" warnt Bernd Siggelkow vor einer sexuellen Verwahrlosung der Jugend. BRIGITTE.de hat mit dem Pastor über die "Generation Porno" gesprochen.

Sexorgien, Vergewaltigungen, Handy-Pornos: Die Fernsehdokumentation "Letzter Halt Sex - Kids am Abgrund" (5.8., ARD, 23:30 Uhr) des Filmemachers, Arztes und Psychologen Manfred Bölk zeigt erschreckende Szenen aus deutschen Kinder- und Jugendzimmern. Einer Interviewten im Film ist der Pastor Bernd Siggelkow aus Berlin. Der Gründer des Hilfswerks Arche e.V. setzt sich seit Jahren für benachteiligte Kinder ein und weist immer wieder auf zunehmende Armut und Verwahrlosung hin, zuletzt in seinem Bestseller "Deutschlands sexuelle Tragödie". BRIGITTE.de hat mit ihm über die neue "Generation Porno" gesprochen.

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BRIGITTE.de: Herr Siggelkow, in den vergangenen Monaten haben Sie viele Preise für Ihre Arbeit bekommen, das Medieninteresse ist groß. Ist das auch ein Signal dafür, dass wir uns Sorgen um unsere Kinder machen müssen?

Bernd Siggelkow: Ich glaube schon, dass die Menschen in den letzten Jahren sensibler für dieses Thema geworden sind. Als ich angefangen habe, mich für benachteiligte Kinder einzusetzen, war die Aufmerksamkeit noch sehr gering. Diese Kinder hatten einfach keine Lobby. Das hat sich inzwischen geändert, nicht zuletzt durch die bekannten Fälle von verwahrlosten und misshandelten Kindern. Sie sind nun keine Zahlen mehr, sondern Realität.

BRIGITTE.de: Besonders viel Aufsehen hat Ihr Buch "Deutschlands sexuelle Tragödie" erregt, in dem Sie Gespräche mit Teenagern über deren Sex-Erfahrungen protokollieren. Da ist die Rede von Sexorgien, Pornos im Kinderzimmer - haben Sie nur die krassesten Berichte aufgeschrieben, um aufzurütteln?

Bernd Siggelkow: Hätte ich die krassesten Berichte aufgeschrieben, hätte wohl kein Mensch dieses Buch gelesen, weil es kaum zu ertragen wäre. Wir haben uns für eine Auswahl entschieden, die repräsentiert, was wir täglich in unserer Arbeit erleben und was uns die Jugendlichen erzählen. Die Berichte sollen zeigen, was passiert, wenn man Kindern nicht das Gefühl von Geborgenheit und Liebe gibt.

BRIGITTE.de: Aber sind diese Berichte denn repräsentativ? Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigen, dass die Teenager in Deutschland eher verantwortungsvoller mit Sexualität umgehen.

Bernd Siggelkow: Wir beschreiben in unserem Buch vor allem Jugendliche aus den sozialen Randschichten und nennen auch keine repräsentativen Zahlen. Doch auch wenn es sich hier um eine kleine Gruppe handelt, heißt das nicht, dass es nicht alarmierend ist. Als ich 2003 auf das zunehmende Problem der Verwahrlosung hinwies, hielten das auch viele für übertrieben. Heute wissen wir, dass jede Woche zwei Kinder an den Folgen von Verwahrlosung sterben. Die Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vermitteln auf den ersten Blick ein positiveres Bild, aber auch dort beobachtet man, dass Kinder immer früher Porno-Filme anschauen und betrachtet das als ernst zunehmendes Problem. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich hier nicht um Ausnahmen handelt, sind die vielen E-Mails, die ich täglich bekomme. Da berichten etwa Grundschullehrer, dass Kinder sich Pornofilme per Handy zuschicken oder sogar Kindergärtner, dass die Dreijährigen Sexstellungen ihrer Eltern nachspielen.

BRIGITTE.de: Der Umgang mit Sexualität scheint also stark von der sozialen Herkunft abzuhängen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Bernd Siggelkow: Zum einen ist es so, dass die Menschen aus der so genannten 'Unterschicht' sehr viel mehr Kinder bekommen, als die aus der gehobenen Mittelschicht. Da kommen die Kinder oft früh und unerwartet, die Eltern haben häufig keine klaren Vorstellungen, wie man mit Kindern umgehen sollte. Arbeitslosigkeit ist zudem weit verbreitet, so dass sich die Eltern 24 Stunden am Tag nur mit sich selbst beschäftigen. So wird Sex oft zur Flucht aus dem Alltag, eine Möglichkeit, sich Bestätigung und Wertschätzung zu holen. Die Kinder übernehmen diese Vorstellung, weil sie es nicht anders kennen.

BRIGITTE.de: Sie kritisieren, dass viele dieser Jugendlichen Sex nicht mehr mit Liebe verbinden. Ist es nicht normal, dass man sich als Teenager ausprobiert - auch wenn der Partner nicht jedes Mal die große Liebe ist?

Bernd Siggelkow: Natürlich ist es normal, dass man sich ausprobiert, auch mal solche Filme ansieht. Ich bin selbst auf St. Pauli in Hamburg aufgewachsen, wo überall erotische Bilder zu sehen sind und habe mich als Jugendlicher damit beschäftigt. Aber der sexuelle Leistungsdruck, dem sich die Jugendlichen heute aussetzen, ist nicht normal. Als ich Jugendlicher war, galt ein Mädchen, das mit drei Männern geschlafen hatte, schon als 'Schlampe'. Heute gilt: Je mehr Partner oder Partnerinnen man hat, desto angesagter ist man. Gefühle spielen kaum eine Rolle, wer nur kuscheln will, kommt nicht gut an. Das Paradoxe ist: Gleichzeitig wünschen sich alle der Jugendlichen, die wir befragt haben, später selbst Kinder, einen Partner, ein Haus. Doch wenn sie Sexualität nicht mehr mit Liebe und Geborgenheit verbinden, dann ist die Frage, ob sie später überhaupt noch in der Lage sind, Liebe zu empfinden und Beziehungen zu führen.

BRIGITTE.de: Sind wir Erwachsenen vielleicht auch überempfindlich? Es ist ja im Grunde nichts Neues, dass sich die jüngere Generation durch sexuelle Provokation von der älteren Generation abgrenzen will.

Bernd Siggelkow: Ich glaube, das kann man nicht so pauschal sagen. Wir erleben bei uns im Kinderhilfswerk 'Arche' eine andere Situation als etwa in den 60er Jahren, als es schon ein Skandal war, wenn eine nackte Frau im Fernsehen zu sehen war. Das eine ist der normale, natürliche Abnabelungs-Prozess, das andere ist eine Entwicklung, die den Menschen psychisch schadet und sie womöglich zu krassen Handlungen führt.

BRIGITTE.de: Besondere Sorgen bereitet Ihnen die 'Porno-Seuche', wie es in Ihrem Buch heißt. Welche Folgen hat es, wenn Minderjährige sich per Handy immer härtere Porno-Filme zuschicken?

Bernd Siggelkow: Genau in diesem 'immer härter' liegt die Gefahr. Es muss immer noch etwas oben drauf gesetzt werden, das heißt, dass irgendwann auch Gewalt ins Spiel kommt. Wir erleben immer wieder junge Leute, für die es ganz normal ist, dass Gewalt zum Sex gehört. Sie lassen es über sich ergehen, weil sie denken, dass wird erwartet.

BRIGITTE.de: Was muss Ihrer Ansicht nach geschehen, um der 'sexuellen Verwahrlosung', wie Sie es nennen, vorzubeugen?

Bernd Siggelkow: Wir müssen mehr miteinander sprechen. Wir vergessen bei aller Freizügigkeit zunehmend, die Kinder auch aufzuklären. Ich treffe immer wieder Jugendliche, die sich danach sehnen, endlich mal mit jemandem über solche Themen zu reden. Doch es fehlen Ansprechpartner. Darüber hinaus brauchen wir dringend Maßnahmen, um Sexseiten im Internet für Kinder unzugänglich zu machen. Warum verlangt man nicht die Eingabe der Personalausweisnummer? Oder führt eine Filtersoftware für Handys ein? Damit wäre schon viel erreicht.

BRIGITTE.de: Wie geht es Jessie, Jana und Hendrik, den Protagonisten aus ihrem Buch, heute? Ist ihnen inzwischen bewusst, dass ihre Erlebnisse nicht so normal sind, wie es ihnen vorkam?

Bernd Siggelkow: Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Es gibt Jugendliche, die sagen, das sei nun mal ihr Leben und daran wollten sie auch nichts ändern. In diesen Fällen bin ich schon froh, dass sich durch unsere Arbeit zumindest beim Thema Verhütung Einiges gebessert hat. Manche Jugendlichen reflektieren sich aber auch gut und reagieren sehr positiv. Ein Mädchen, das neulich zu uns in die Arche kam, hat das Buch in einem Rutsch durchgelesen und meinte danach: 'Endlich mal einer, der unsere Situation aufschreibt'.

"Letzter Halt Sex - Kids am Abgrund", zu sehen am 5.8. in der ARD um 23:30 Uhr

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Bernd Siggelkow, Wolfgang Büscher: "Deutschlands sexuelle Tragödie: Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist", GerthMedien, 187 Seiten, 14,95 Euro

Interview: Michèle RothenbergFoto: SWR/Manfred Bölk

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