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"Existenzielle Kränkung"

Eine Woche nach dem Wahldebakel in Schleswig-Holstein: Brigitte.de fragte Jürgen Leinemann, "Spiegel"-Journalist und Autor eines Buchs, das von der Machtsucht von Politikern handelt, wie er sich Heide Simonis' Verhalten erklärt.

Brigitte.de: Heide Simonis tritt nicht mehr als Ministerpräsidentin an. Dass sie sich überhaupt noch einmal zur Wahl gestellt hat - würden Sie das als Realitätsverlust einer Machtsüchtigen deuten?

Jürgen Leinemann: Daran habe ich keinen Zweifel, leider. Sie hat das, was ihr Amt für sie selbst bedeutet, ja stets klar charakterisiert. Für sie ist die Vorstellung furchtbar, ohne Amt zu sein, nicht mehr im Scheinwerferlicht zu stehen. Daher konnte sie nicht vernünftig einschätzen, wie ihre Situation wirklich ist. Sie hätte sich und ihrer Partei eine Menge erspart, und den Bürgern weniger zugemutet.

Brigitte.de: Meinen Sie damit, sie hätte direkt nach der Landtagswahl zurücktreten müssen, oder zu einem noch früheren Zeitpunkt?

Jürgen Leinemann: Heide Simonis ist angetreten und hat gekämpft, das war so weit in Ordnung. Sie hätte wohl besser auf die Kandidatur verzichtet, als das Wahlergebnis vorlag. Es war die Folge eines Trends, der gar nicht gegen sie persönlich gerichtet war, sondern gegen Rot-Grün, und der die Konservativen stärkte. Gegen diesen Trend mit der alten Regierungskoalition zu kandidieren, und das mit nur einer einzigen Stimme mehr, war geradezu tollkühn, das hätte sie erkennen können. Bei einer Stimme Mehrheit bringen Sie jedes Regierungsmitglied in eine ungeheure Machtposition. Wenn das jetzt nicht passiert wäre, hätte es bei jeder späteren Abstimmung zu einer ähnlichen Situation kommen können. Für Heide Simonis sieht es so natürlich besonders jämmerlich aus.

Brigitte.de: Wobei man wohl froh sein kann, dass eine derart wacklige Konstruktion gar nicht erst regierungstätig werden konnte. Was, glauben Sie, waren die Beweggründe der Person, die nicht für Simonis gestimmt hat?

Jürgen Leinemann: Das kann im schlimmsten Fall Bestechung gewesen sein, oder auch persönliche Ranküne, das wären die billigsten Möglichkeiten. Oder politische Beweggründe: Er oder sie mag sich gedacht haben, eine Regierung mit dieser knappen Mehrheit könne für dieses Land nicht gut sein, hat sozusagen aus ethischen, übergeordneten Gründen gehandelt. Wobei die Art und Weise natürlich nicht besonders stilvoll war, um es zurückhaltend auszudrücken.

Brigitte.de: In ihrer Regierungserklärung spricht Heide Simonis davon, es sei möglich, gegen "offene Messer" zu kämpfen, sie aber sei von einem "hinterhältigen Dolchstoß" getroffen worden. Wie deuten Sie diese kriegerische Rhetorik?

Jürgen Leinemann: Heide Simonis ist eine kämpferische Frau, mit einer "mannhaften" Attitüde, insofern verwundert mich diese Sprache nicht. Wenn sie mit etwas nicht einverstanden war, hat sie das stets öffentlich gemacht, und zwar mit drastischen Worten. Das hat ihr auch im eigenen Lager nicht nur Freunde gemacht. Es hat ja schon vor der Ministerpräsidentenwahl kritische SPD-Stimmen gegeben, zum Beispiel hat Björn Engholm öffentlich verlauten lassen, dass diese Mehrheit zu knapp ist. Ich halte Simonis' Wortwahl für den Ausdruck ihrer schweren Verletztheit. Die Niederlagen waren eine existenzielle Kränkung für sie.

Brigitte.de: Was sollte sie jetzt tun?

Jürgen Leinemann: In Urlaub fahren, das Ganze sacken lassen und in Ruhe darüber nachdenken, und stolz auf das sein, was sie in zwölf Jahren als Ministerpräsidentin geleistet hat. Ich wünsche ihr sehr, dass sie nicht körperlich auf diesen Entzug von Macht reagiert, dass sie also gesund bleibt. Es gibt ja nicht viele Menschen, die über eine so große politische Erfahrung verfügen wie sie, und sicher gibt es weiterhin Bedarf für ihr Können und Wissen, auch wenn sie jetzt andeutet, dass ihr politisches Leben zuende ist. Hans Dietrich Genscher hat auch zehn Jahre nach der Beendigung seiner politischen Laufbahn noch einen Terminkalender gehabt, das so dick war wie zu der Zeit, als er Bundesaußenminister war.

Buchtipp:

Jürgen Leinemanns Buch "Höhenrausch. Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker" erschien im September 2004 im Karl Blessing Verlag.

Interview: Wiebke Peters Fotonachweis: Monika Zucht, © Spiegel Verlag

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