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#10secondi Wieso sexuelle Belästigung keine Stoppuhr braucht

#10secondi
© Anela Ramba/peopleimages.com / Adobe Stock
Das Zehn-Sekunden-Urteil in Italien sorgt weltweit für Empörung. Zu Recht, denn die Justiz versagt auf ganzer Linie. Die Folgen: drastisch. Die Bedeutung für Opfer sexualisierter Gewalt: ein Schlag ins Gesicht.

Immer wieder sorgen Fälle sexueller Übergriffe für Entsetzen und Empörung in unserer Gesellschaft. Jüngst erreichte uns aus Italien die Nachricht von einem schockierenden Urteil, das bei vielen Menschen Wut und Fassungslosigkeit auslöst und vor allem in den sozialen Medien hohe Wellen schlägt. In einer Schule in Italien ist Folgendes passiert: Ein 66-jähriger Hausmeister fasst ein 17-jähriges Mädchen unangemessen an, konkret: Er greift ihr in die Hose. Dass es sich dabei um sexuelle Belästigung handelt, liegt auf der Hand, doch ein Gericht in Italien sieht das anders und entscheidet zugunsten des Mannes.

Die Begründung: Der Übergriff habe nicht länger als 10 Sekunden gedauert, eine Verurteilung sei daher nicht möglich. Der Mann habe die Tat zugegeben, sie aber als Scherz deklariert. Das Mädchen zeigte sich gegenüber der Zeitung "Corriere della Sera" entsetzt: "Die Richter halten das für einen Scherz? Für mich war es kein Scherz." Sie habe seine Hände deutlich gespürt. Was bleib: Empörung, Fassungslosigkeit, Wut.

Unter dem Hashtag #10secondi protestieren nicht nur unzählige junge Menschen im Netz gegen das Urteil, auch zahlreiche italienische Prominente, darunter Schauspieler Paolo Camilli, teilen ihr Entsetzen über den Vorfall. Videos, die zeigen, wie lang eine 10 Sekunden lange "palpata breve", zu Deutsch "kurze Berührung" ist, gehen viral. 

Video: So sieht der Protest gegen das Skandal-Urteil aus

Sexuelle Belästigung: Italienerinnen wehren sich

Sexueller Missbrauch passiert. Ständig.

In Zeiten von #Metoo oder der Machtmissbrauchsdebatte, die nicht zuletzt wegen Vorwürfen gegen den Rammstein-Sänger Till Lindemann jüngst wieder für Aufsehen sorgte, schockiert dieses Urteil. Nicht nur, weil man bei der Menge an Medienpräsenz vielleicht etwas mehr Sensibilität erwartet hätte, sondern auch, weil sexuelle Übergriffe als solche gar nicht als drastisch oder problematisch wahrgenommen werden.

Sexuelle Übergriffe passieren. Ständig. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, wie kurz oder wie lang, wie körperlich oder wie verbal der Übergriff war. Dieser Fall zeigt nicht nur das Leid der Opfer, sondern auch das eklatante Versagen des Justizsystems, wenn es darum geht, Gerechtigkeit walten zu lassen. Darüber hinaus ist er vor allem für Frauen ein Schlag ins Gesicht und zeigt, dass das Bewusstsein und die Sensibilität für sexuelle Übergriffe, welche selbstverständlich sein sollten, noch lange nicht so ausgeprägt sind, wie man es eigentlich erwarten würde.

Ein Schlag ins Gesicht für alle Frauen

Das Urteil zeigt, dass der Schutz der Opfer und die Bestrafung der Täter oder Täterinnen immer noch nicht die Priorität haben, die sie verdienen. Darüber hinaus sendet ein solcher Freispruch eine gefährliche Botschaft: dass sexuelle Übergriffe JEGLICHER Art nicht ernst genommen werden und dem:der Täter:in keine Konsequenzen drohen. Dass solche Übergriffe mal eben so abgetan werden und dass Menschen in hierarchischen Positionen, die eine Verurteilung aussprechen, offenbar keinerlei Bewusstsein für die Drastik eines solchen Vorfalls entwickelt haben. Auch vorherrschende Machtasymmetrien in Verbindung mit Angst werden hier völlig ignoriert. Ein solches Urteil ist nicht nur erniedrigend für die Opfer, sondern auch ein Rückschritt für die Rechte und den Schutz von Frauen und anderen Opfern sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft.

Die aufkommende Medienpräsenz des Falles zeigt aber auch, dass auf ein solch skandalöses Urteil reagiert wird und dass Schweigen keine Lösung ist, wenn das Justizsystem versagt. Es ist wichtig, auf solche Fälle aufmerksam zu machen. Alarmierende Beispiele können aber auch als Weckruf dienen, um den anscheinend noch langen Weg zu einer Gesellschaft ohne sexuelle Gewalt, Belästigung und Machtmissbrauch zu gehen.

Verwendete Quellen: corriere.it, bbc.com, instagram.com

Brigitte

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