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30 Stunden-Woche für alle! Wann ist es endlich soweit?

Teilzeit als neuer Standard: Familie
© Maja Metz
Wird unser Leben wirklich besser, wenn plötzlich alle Vollzeit arbeiten? Lasst uns den Spieß lieber umdrehen, sagt BRIGITTE-Redakteurin Kristina Maroldt: Machen wir die Teilzeit zum neuen Standard - für Frauen UND Männer!

Es war im letzten Sommer, kurz nach der Einschulung unseres Sohnes, als ich vom Glauben abfiel. Eine Woche lang saßen damals meine Kinder, fünf und sechs, jeden Morgen mit angstgeweiteten Augen und Bauchweh am Frühstückstisch, weil sie sich in ihrer Klasse und in der neuen Kitagruppe so fremd fühlten: "Können wir bitte, bitte schon mittags abgeholt werden?" Äh, nun. Unsere Babysitterin hatte gerade gekündigt. Die Großeltern wohnen 650 Kilometer entfernt. Die Urlaubstage von meinem Mann und mir waren bis Jahresende restlos verplant. Und da passierte es: Plötzlich war ich heilfroh, eine "Teilzeit-Mutter" zu sein. 30 Wochenstunden lassen sich zur Not ganz gut zu einem Halbtagsjob stauchen, wenn man früh genug im Büro sitzt. Die Kinder wurden mittags abgeholt. Große Erleichterung.

Eine 30-Stunden-Woche erleichtert den Alltag enorm

Tatsächlich hätte ich nie gedacht, dass es mal so weit kommen würde: Als Mutter Vollzeit zu arbeiten, das war für mich stets der Inbegriff gelebter Emanzipation gewesen. Finanzielle Unabhängigkeit, gleichbleibend gute Aufstiegschancen, Gestaltungsmacht - Lean In, Baby!

Auf alle, die sich irgendwann anders entschieden - von meiner Bekannten, die ihre Stelle als Krankenschwester nach dem dritten Kind halbierte, bis zu Anne-Marie Slaughter, Ex-Chefin des Planungsstabs im US-Außenministerium, die 2012 ihren Job schmiss, um sich um ihre pubertierenden Söhne zu kümmern - blickte ich mit einer Mischung aus Unverständnis und Enttäuschung. Bis mir, der Vollzeit arbeitenden freien Journalistin, vor einem Jahr eine feste Teilzeitstelle angeboten wurde. Ich zögerte kurz, nahm dann aber doch an. Und merke seither: Mir wäre es aus Fairnessgründen zwar nach wie vor lieber, mein Mann würde seine Arbeitszeit ebenfalls reduzieren. Doch Fakt ist auch: Schon meine 30-Stunden-Woche erleichtert unseren Alltag enorm.

Die Probleme werden mit zunehmendem Alter der Kinder nicht weniger - im Gegenteil

Denn so geschmeidigdas Modell "Beide Vollzeit" anfangs laufen mag - im Langzeitgebrauch, das ist zumindest meine Erfahrung, knirscht es leider gewaltig. Weil der Sprint zwischen Job und Familie auf Dauer eben doch schlaucht. Und weil er nicht unbedingt einfacher wird.

Klar, volle Windeln und durchwachte Nächte gibt es irgendwann nicht mehr. Dafür kämpft man plötzlich mit gut 70 schulfreien Tagen, die es mithilfe von Ferienlagern, Großeltern und Hortbesuchen zu überbrücken gilt. Man muss zurechtkommen mit Wäschebergen, die sich pro Kind und Lebensjahr gefühlt verdoppeln, mit aufwendigen, aber heiß geliebten Hobbys, gehassten, aber nicht minder zeitfressenden Sitzungen beim Kieferorthopäden, irgendwann vielleicht auch mit Omas oder Opas, die versorgt werden müssen. Dabei bin ich als Hamburgerin sogar noch privilegiert: Die Grundschule meines Sohnes bietet Ganztagsbetreuung an - ein Feature, das in den meisten deutschen Kitas inzwischen zum Standard gehören mag, in den Schulen vieler Bundesländer aber noch längst nicht.

Viele Eltern wünschen sich, ihre Stunden zu reduzieren

Und auch den Kindern reicht es irgendwann nicht mehr, wenn Mama oder Papa lächelnd an der Sandkiste sitzen (und nebenbei klammheimlich Jobmails checken). Fünf- bis Zwölfjährige finden ihre Eltern nämlich meist so großartig, dass sie so viel wie möglich mit ihnen spielen, diskutieren und Quatsch machen wollen. Und, Herrgott noch mal, das ist ja auch wundervoll, das sollen sie ja auch bitte unbedingt tun! Doch wenn Mutter und Vater nebenbei noch 40 oder mehr Stunden pro Woche einem Job nachgehen (der deutsche Durchschnittsvollzeitbeschäftigte macht wöchentlich fast fünf Überstunden), wird die Sache für alle Beteiligten extrem stressig. Ganz zu schweigen davon, wenn man alleinerziehend ist und seine Vollzeit nicht gewählt hat, weil einem der Job so irre viel Spaß macht, sondern weil das Geld sonst nicht reicht.

Klar, man kann Familienarbeit großflächig delegieren - an kaum bezahlbare legal beschäftigte Nannys, halbwegs erschwingliche schwarzarbeitende Babysitter, aufopferungswillige Großeltern (falls in Reichweite), hilfsbereite Nachbarn oder an alle zusammen. Und klar, das kann funktionieren.

Doch ist das wirklich, was sich die meisten wünschen? Fragt man Vollzeit erwerbstätige Eltern, wie ihr Traummodell aussieht, sagen laut einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin 80 Prozent, sie würden gern deutlich reduzieren. Die Mütter von 41 auf 28 Stunden, die Väter von 44 auf 35. Zufriedenheit hört sich anders an.

Machen wir die Teilzeit zur neuen Vollzeit - bei vollem Lohn!

Wenn wir die 40-Stunden-Wocheals Speerspitze der Emanzipation feiern, betrügen wir uns deshalb selbst, finde ich. Weil wir unser Leben mit enormem Kraftaufwand an eine Arbeitswelt anpassen, die noch immer auf dem Geschlechterbild der westdeutschen 1960er-Jahre beruht. Kaum jemand beförderte den Siegeszug des allzeit verfügbaren Beschäftigten so sehr wie die Hausfrau, die ihm den Rücken freihielt. Das Modell "Er arbeitet, sie bleibt zu Hause" ist aus guten Gründen längst nicht mehr die Norm, nur noch jedes vierte Paar mit minderjährigen Kindern lebt so, Tendenz rapide sinkend. Doch das Ideal des Duracell-Hasen ist in vielen Firmen quicklebendig.

Wäre es da nicht schlauer, wir nutzten unsere Energie, um die Arbeitswelt zu verändern - statt die ganze Zeit uns selbst? Erste Schritte in die richtige Richtung gibt es ja bereits: Job-Modelle, die anspruchsvolle Positionen auch mit einer 75-Prozent-Stelle ermöglichen, die Zunahme von Homeoffice, der leichtere Wechsel zwischen Voll- und Teilzeit, Initiativen, um mehr Männer in Teilzeit zu bringen. Und all das hilft. Ist aber nur eine Zwischenlösung.

Denn ein Grundproblem bleibt: Wer 75 Prozent arbeitet, verdient 75 Prozent. Und das kann spätestens im Alter wehtun. Meist den Müttern, weil die wegen traditioneller Rollenbilder oder besser verdienender Partner elfmal so häufig reduzieren wie die Väter. Warum drehen wir den Spieß also nicht einfach um? Machen wir die Teilzeit zur neuen Vollzeit! 30 Stunden für alle - Männer, Frauen, Eltern, Nicht-Eltern. Bei vollem Lohn!

Dass wir den ganzen Tag durchgängig produktiv sind, hat die Forschung längst widerlegt

Das klingt naiv? Nur wenn man glaubt, dass sich in acht Stunden wirklich mehr schaffen lässt als in sechs. Doch genau das widerlegen nicht nur Millionen hocheffizient arbeitender Teilzeit-Kräfte, sondern auch viele Studien. Durchschnittliche Büroangestellte, ergab etwa eine Umfrage in Großbritannien, arbeiten nur knapp drei Stunden pro Tag konzentriert an einem Projekt. Der Rest geht drauf für Internetsurfen, Small Talk, Kaffeepausen.

Ab 25 Arbeitsstunden pro Woche bestehe bei über 40-Jährigen sowieso die Gefahr, dass die kognitiven Fähigkeiten nachlassen, fand ein Forscherteam der Universität Melbourne heraus (>>Warum Menschen über 40 nur 3 Tage pro Woche arbeiten sollten). Und wird uns nicht ständig prophezeit, dass Roboter demnächst die Hälfte der Arbeit übernehmen? Vor einem Produktionsstau in Firmen und Werkshallen muss sich also keiner fürchten. Zumal durch eine Verkürzung der Vollzeit kaum Arbeitsvolumen verloren ginge, wie die Soziologieprofessorin Dr. Jutta Allmendinger gern vorrechnet: Viele Teilzeit-Mütter wären durch das Modell motiviert, es doch mal mit Vollzeit zu versuchen, viele Ältere dank der entzerrten "Rush Hour" zwischen 30 und 40 in der Lage, einige Jahre länger zu arbeiten.

Einige Firmen leben bereits den 6-Stunden-Tag - und schwärmen von positiven Effekten

Es gibt Firmen, die das Experiment bereits wagen. In den USA etwa schwärmen Unternehmer wie der Paddle-Board-Hersteller Stephan Aarstol oder die Gründer der Software-Firma Basecamps schon länger von den positiven Effekten auf Motivation und Produktivität durch 25- oder 32-Stunden-Wochen. In Schweden testeten mehrere Städte in Krankenhäusern, Kitas und Altenheimen den Sechs-Stunden-Tag.

In Deutschland folgen bislang vor allem kleine Agenturen dem Beispiel von Aarstol - doch seit einem Jahr auch die ostdeutsche Chemie-Branche, die ihren Betrieben nun erlaubt, frei zu bestimmen, ob die Belegschaft 32 oder 40 Stunden arbeiten oder irgendwas dazwischen. So will man Fachkräfte anlocken.

Nur: Eine 30-Stunden-Woche muss auch ermöglicht werden, nicht alle Prozesse lassen sich verschlanken. Eine Altenpflegerin etwa kann sich dann nicht um genauso viele Menschen wie vorher kümmern, ohne dass die Qualität leidet. Dann braucht es schon mehr Leute. Vielleicht müsste in manchen Bereichen oder als Übergang auch der Staat einspringen, wie es die Soziologin Karin Jurczyk vorschlägt: Nach ihrem Konzept der "Care-Zeit-Budgets", einer Art Mix aus Grundeinkommen und Elterngeld Plus, stünden im Laufe ihres Erwerbslebens allen fünf bis acht Jahre zu, in denen sie den Job unterbrechen oder die Arbeitszeit verringern können - für Familie, Erholung oder Weiterbildung. Lohneinbußen würden durch öffentliche Mittel aufgefangen.

Fest steht auf jeden Fall: So wie jetzt, muss es nicht weitergehen. Es gibt Ideen und Visionärinnen. Und es gibt uns, die Fachkräfte, die derzeit alle so dringend suchen. Nutzen wir diese Chance. Tun wir uns zusammen - mit modernen Unternehmerinnen, Gewerkschaftern, Politikerinnen. Und machen wir uns die Arbeitswelt, wie sie uns gefällt. Wenn wir die 30-Stunden-Woche nicht mehr selbst erleben, tun es vielleicht unsere Kinder. Apropos: Schon halb vier - höchste Zeit zu gehen. Wir sehen uns vor der Kita.

BRIGITTE 10/2019

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