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Schlecker-Mitarbeiterin: Ich werde bespitzelt!

Bedrängt, bespitzelt, ständig unter Verdacht: eine Verkäuferin der Drogeriekette Schlecker berichtet, wie Mitarbeiter unter Druck gesetzt werden. Ihr Name muss geheim bleiben - denn sie braucht den Job.

Mit Schwung wuchtet sie eine große Tüte auf den Tisch im Café: 15 Jahre als "Schlecker"-Verkäuferin, gesammelt in zwei dicken Leitz-Ordnern voller Briefe, Abmahnungen, Kündigungen. "Ich möchte, dass Ihre Leserinnen erfahren, wie man dort mit uns umspringt", sagt die Frau, die sich nicht traut, ihren Namen zu nennen. "Für die sind wir keine Menschen, sondern Roboter."

Sie nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse. Dann beginnt sie zu erzählen: Ich wollte schon immer Verkäuferin werden. Menschen beraten, organisieren - das ist total mein Ding. Auch bei Schlecker hat es mir zuerst richtig Spaß gemacht. Mitte der 90er war das, ich hatte gerade einige Jahre als Tagesmutter gearbeitet, wollte wieder zurück in meinen eigentlichen Beruf, und Schlecker stellte mich sofort ein. Der Job war anstrengend, gefiel mir aber gut.

Bis ich versuchte, zusammen mit Kolleginnen einen Betriebsrat zu gründen, einen der ersten bei Schlecker überhaupt. Mein Gott, war das kompliziert! Vielleicht hätte mich das stutzig machen sollen: Wieso hat ein Arbeitgeber so viel Angst davor, dass seine Mitarbeiter sich organisieren? Schon unser Infotreffen flog auf, die Filialleiterin wurde zum Chef zitiert. Als sie aus dem Büro zurückkam, wollte sie plötzlich keinen Betriebsrat mehr gründen.

Erst ein Jahr später, in einer anderen Filiale, haben wir es geschafft. Wohl auch, weil wir vorher kaum jemandem davon erzählt hatten. Ich ließ mich als Mitglied in den Betriebsrat wählen. Von diesem Tag an war ich in der Schusslinie. Gleichzeitig bekam ich aber auch mit, wie das System Schlecker funktioniert. Meine wichtigste Erkenntnis: Schlecker ist Meister darin, Menschen unter Druck zu setzen und sie klein zu halten. Die Methode ist simpel: Gib deinen Angestellten einfach das Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen - und unter Verdacht.

Als sich vor Kurzem alle über die Lidl-Bespitzelungen aufgeregt haben, konnte ich nur müde lächeln. Videoüberwachung habe ich persönlich zwar nicht erlebt. Doch in den Schlecker-Filialen gibt es hinter den Regalen Hohlräume, in die sich in den 90er Jahren vor Dienstbeginn Detektive gequetscht haben, um dort bis zum Abend - mit Schreibzeug, Butterbrot und Pinkeleimer ausgerüstet - Stellung zu halten.

Durch die Löcher in der Regalrückseite haben sie überprüft, ob wir was mitgehen lassen. Informiert hat uns keiner. Aber wir wussten, was los ist. Manchmal hat man ein Husten gehört, einige Kolleginnen haben die Spitzel auch ertappt und sich furchtbar erschreckt. Natürlich war einem die Vorstellung, observiert zu werden, extrem unangenehm. Doch was sollten wir tun? Uns beschweren und danach vielleicht in eine Filiale versetzt werden, die doppelt so weit vom Wohnort entfernt ist?

Damit stellt man bei Schlecker nämlich gern unbequeme Personen ruhig und verhindert Betriebsratsgründungen, dazu gibt es sogar schon Gerichtsurteile und ganze Bücher. Denn wer traut sich schon, gegen eine Versetzung zu protestieren? Man ist doch froh, überhaupt einen Job zu haben.

Wenn Schlecker einen loswerden will, geht das nämlich schneller, als man denkt. Es gibt ja so viele Methoden. Zum Beispiel den Trick mit den abgelaufenen Waren: Vor Kontrollbesuchen werden bereits aussortierte Konserven oder Gläschen mit Babybrei heimlich ins Regal zurückgestellt. Fast jede Kollegin hat das schon erlebt. Belegen kann ich das natürlich nicht, nur vermuten. Ein Indiz ist zum Beispiel, wenn der Bezirksleiter beim Kontrollbesuch schnurstracks zu einem bestimmten Regal geht und sofort die abgelaufene Ware rauszieht.

Am Anfang ist mir das oft passiert, ich habe dann immer fast an meinem Verstand gezweifelt, weil ich mir so sicher war, alle verdorbene Ware aussortiert zu haben! Im Büro wurde ich danach für unfähig erklärt, den Job korrekt auszuführen. Mir wurde nahegelegt, doch lieber die Pause ausfallen zu lassen oder mit der Arbeit für den Betriebsrat aufzuhören, um den Laden "in den Griff" zu bekommen. Irgendwann begann ich dann, alle aussortierten Produkte mit schwarzem Edding zu markieren, damit sie keiner unbemerkt ins Regal zurückstellen kann. Seitdem wurden bei mir kaum mehr abgelaufene Waren gefunden. Merkwürdig, nicht wahr?

Manchmal lassen sich Fehler natürlich nicht vermeiden. Allein schon, weil wir unglaublich viel wegschaffen müssen, in immer weniger Zeit. Am Personal wird bei Schlecker nämlich fast fanatisch gespart. Trotzdem wird uns bei jeder Betriebsversammlung vorgerechnet, wir seien zu teuer.

Dabei wurde der Personalspiegel in den letzten Jahren ohnehin ständig gesenkt, viele Filialen sind jetzt montags bis samstags von acht bis 20 Uhr geöffnet, trotzdem wurden uns kaum mehr Personalstunden genehmigt. In meiner Filiale müssen wir zum Beispiel mit nur einer Vollzeitkraft und drei Teilzeitkräften auskommen. Das heißt: Spätestens ab halb vier sitze ich allein im Laden und muss im Grunde nonstop durcharbeiten, Kunden bedienen und kassieren, Waren aussortieren, nachfüllen, auspreisen, Böden wischen und abends um acht die großen Körbe mit den Saisonartikeln wieder in den Laden schieben. Sechs Stunden ohne Pause sind laut Arbeitszeitgesetz ja erlaubt - und Schlecker reizt das voll aus.

Wenn ich zwischendrin mal aufs Klo muss, habe ich Pech gehabt. Theoretisch darf ich den Laden dafür zwar kurz zusperren, meist sind aber Kunden drin, die kann ich ja nicht einfach rausschmeißen.

Es ist verrückt: Eigentlich bin ich wegen der Kunden Verkäuferin geworden. Weil wir so viele andere Dinge erledigen müssen, empfinde ich die aber oft nur noch als Störfaktor. Zum Beispiel, wenn einer nur was Kleines für 80 Cent kauft, den Umsatz also kaum steigert, mich aber trotzdem im Schnitt zehn Minuten kostet. Denn kassieren und freundlich sein ist Schlecker ja zu wenig.

Wir müssen jedes Mal auf Bestellshop, Kundenmagazin und die Saisonartikel hinweisen und möglichst noch was Zusätzliches unterjubeln. Überprüft wird das durch Testkunden. Wenn die behaupten, dass ich sie nicht korrekt bedient habe, gibt es böse Briefe nach Hause, oder mein Bezirksleiter erklärt mich für überfordert und ungeeignet. Und ich kann mich noch nicht mal wehren, weil ich mich oft gar nicht an die Situation erinnere.

Ich frage mich, wer eigentlich die Testkunden kontrolliert. Der Druck hat System, glaube ich. Wir sollen das Gefühl haben, ständig auf der Abschussrampe zu sitzen, austauschbar zu sein. Damit sich keine traut, den Mund aufzumachen. Am Anfang habe ich mich gewundert, warum fast nur Frauen in den Läden arbeiten - bei anderen Drogerieketten ist das ja eher gemischt. Inzwischen denke ich: Auch das ist gewollt. Frauen sind oft sensibler, lassen sich leichter einschüchtern. Manche sind ja auch alleinerziehend und deshalb auf den Job angewiesen. Da arbeitet man lieber doppelt, als eine Kündigung zu riskieren.

Richtig wütend macht mich deshalb, dass sie gerade uns Frauen so völlig ungeschützt in den Läden sitzen lassen. Die Tresore im Büro haben Zeitschlösser, an meiner Kasse gibt es noch nicht einmal einen Alarmknopf. Wenn ich abends im Laden bin, draußen ist es dunkel, drinnen ist es hell, jeder kann mich durch die Scheibe sehen, sitze ich dort wie auf dem Präsentierteller - natürlich allein, denn die Kollegin ist ja schon seit nachmittags weg.

Wenn jetzt einer käme und mir eine Pistole an den Kopf hielte, könnte ich nur beten, dass ich die Kasse aufbekomme, bevor der Einbrecher nervös wird und mir eins überzieht. Kolleginnen von mir, die das erlebt haben, hatten noch Monate später Albträume, trauten sich nicht zur Arbeit. Manche bitten dann ihre Ehemänner, sich abends in den Laden zu stellen, sonst würden sie durchdrehen.

Ich selbst habe zum Glück noch keinen Überfall erlebt, dafür hat ein Kunde vor mir mal die Hose runtergelassen. Wer weiß, was der mit mir gemacht hätte, wenn ich nicht wie eine Irre aus dem Laden gerannt wäre. Die Lösung des Problems wäre so simpel: Man könnte zum Beispiel die Kassen umstellen, so dass wir den Eingang besser im Blick haben. Oder die Läden weniger zustellen, damit wir sehen, was zwischen den Regalen passiert. Schlecker macht das aber nur selten, beruft sich auf bautechnische Gründe. Und am besten wäre es natürlich, wenn wir immer zu zweit im Laden wären. Das würde die Einbrecher abschrecken. Doch das ist Schlecker natürlich zu teuer.

Wieso kündigst du nicht?, fragen mich meine Freunde manchmal. Ihr spinnt ja, sage ich dann. Wo soll ich mit über vierzig denn einen neuen Job finden? Es gibt aber noch einen anderen Grund, und der ist mir sehr wichtig: Ich will nicht weglaufen. Ich will kämpfen und anderen "Schlecker-Frauen" damit Mut machen. Und das kann man nur, wenn man selber Mitarbeiterin ist, glaube ich.

Denn selbst wenn jetzt aus Protest keiner mehr bei Schlecker kaufen würde, würde uns das nichts nützen. Im Gegenteil: Dann machen wir weniger Umsatz, bekommen noch weniger Personalstunden genehmigt, haben umso mehr Stress. Nein, wir müssen uns selber helfen. Müssen sagen, was uns stört, und notfalls gerichtlich dagegen vorgehen. Wir haben nämlich Rechte. Wir sind keine Roboter.

Und das sagt Schlecker zu der Geschichte

. . . den als bedrohlich empfundenen Alleinbesetzungen in den Filialen: "Bei einer ständigen Mehrfachbesetzung über die gesamte Öffnungszeit wären viele Schlecker-Märkte wirtschaftlich nicht mehr rentabel zu führen."

. . . dem fehlenden Alarmknopf an der Kasse: Notfall- Alarmknöpfe würden derzeit "in immer mehr unserer Verkaufsstellen eingerichtet, wobei die Priorität sich nach dem Gefährdungsgrad richtet"

. . . der Behinderung von Betriebsratsgründungen durch Versetzungen von Mitarbeiterinnen in andere Filialen: "Betriebsräte sind heute bei Schlecker völlig alltäglich. Stattfindende Versetzungen sind sachlich begründet."

. . . der heimlichen Bespitzelung der Verkäuferinnen durch Detektive: "Nur bei begründetem Verdacht auf Diebstahls- oder Unterschlagungsdelikte durch Mitarbeiter finden in Einzelfällen sorgfältig abgewogene Kontrollen in angemessener Form statt. (...) Externe Ermittler werden bedarfsweise zur Bekämpfung des Ladendiebstahls eingesetzt. In diesen Fällen wird das Verkaufsstellenpersonal stets vorab informiert." Hierzu Ulrich Dalibor, Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel bei Verdi: "Das gilt nur in Filialen, in denen die Betriebsräte das vorher so mit Schlecker abgestimmt haben. Aus anderen Verkaufsstellen wurde uns dagegen immer wieder von verdeckten Bespitzelungsaktionen, zum Beispiel durch heimlich montierte Kameras oder durch Detektive hinter den Regalen, berichtet."

. . . der Praxis mancher Vorgesetzter, abgelaufene Waren zurückzustellen, um die Verkäuferin zu belasten: "Leider wird dieser Vorwurf immer wieder in pauschaler und unbewiesener Form wiederholt. Er ist haltlos. (...) Wir fordern die Urheber der Vorwürfe prinzipiell auf, uns Namen zu nennen, um eine Überprüfung zu ermöglichen." Hierzu Ulrich Dalibor von Verdi: "Keine Mitarbeiterin würde öffentlich irgendwelche Namen nennen. Die Angst, den Job zu verlieren, ist zu groß."

Das Unternehmen Schlecker

10 600 Filialen hat Schlecker in Deutschland, 14 000 im europäischen Ausland. Trotz harter Konkurrenzkämpfe ist das vom Ehepaar Anton und Christa Schlecker geleitete Unternehmen noch immer deutscher Marktführer bei den Drogerie-Discountern.

Die Kosten für Personal und Ladenausstattung werden so niedrig wie möglich gehalten: Nur rund 40 000 Beschäftigte arbeiten in den deutschen Filialen, etwa 80 Prozent davon in Teilzeit. Alleinbesetzungen sind damit die Regel, entsprechend groß das Risiko von Überfällen.

Immer wieder wird Schlecker deshalb von der Gewerkschaft Verdi kritisiert. Vorgeworfen wird dem Unternehmen von Verdi auch ein repressives Vorgehen gegenüber Mitarbeitern, die Betriebsräte gründen wollen. Tatsächlich gibt es bisher nur in 112 von 327 möglichen Bereichen eine Arbeitnehmervertretung.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

vielen Dank für Ihre zahlreichen Kommentare zu diesem Text.

Leider war es technisch nicht möglich, sie bei unserer Umstellung auf das neue Design mitzunehmen.

Herzliche Grüße,

Ihr Team BRIGITTE.de

Protokoll: Kristina Maroldt ein Artikel aus der BRIGITTE 16/08 Foto: Nopileon/Photocase.com

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