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Jutta Allmendinger: "32 Stunden sind genug"

"Ich kann mir nicht vorstellen, wie man Kinder erziehen möchte, wenn beide Partner fünf Tage in der Woche voll erwerbstätig sind", sagt die führende Soziologin Jutta Allendinger im BRIGITTE-Interview.
Jutta Allmendinger: "32 Stunden sind genug"
© Imago/Horst Galuschka

Jutta Allmendinger, 57, ist Soziologin und hat eine beispiellose Karriere gemacht: Seit April 2007 leitet sie als erste Frau das weltweit angesehene Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Durch lebensnahe und provokante Thesen hat sich die Professorin einen Namen gemacht und ist auch in der Politik eine gefragte Gesprächspartnerin. Jutta Allmendinger lebt in Berlin und hat einen 18-jährigen Sohn. Gerade ist ihr Buch "Schulaufgaben" erschienen.

BRIGITTE: Frau Allmendinger, 2013 wird ein spannendes Jahr für Frauen: Die Quote kommt, das Betreuungsgeld und der Rechtsanspruch auf Krippenplätze - obwohl bereits jetzt klar ist, dass 220.000 davon fehlen...

Jutta Allmendinger: Ich glaube übrigens, dass es tatsächlich 300.000 sein werden.

BRIGITTE: Das macht die Rückkehr in den Job für Mütter nicht einfacher. Was empfehlen Sie unter diesen Bedingungen den Frauen, die wieder anfangen wollen zu arbeiten?

Jutta Allmendinger: Grundsätzlich sollten sie den Beruf erst gar nicht aufgeben. Kontakt halten, das Elterngeld und die Betreuung mit den Vätern teilen. Auch mal an sich selbst denken, an die Folgen eines längeren Ausstiegs für die Karriere-Entwicklung und die eigene Rente. Dieser Blick in die Zukunft gibt Rückgrat für die nicht immer leichten Aushandlungen mit dem Partner. Wenn Mütter einige Jahre gar nicht erwerbstätig waren, ist die Rückkehr in den Beruf nicht einfach. Deshalb sollten sie recht bald, aber erst mit wenigen Stunden beginnen und dann nach und nach auf 32 Stunden gehen. Das erscheint mir eine gut lebbare Arbeitszeit - für Männer und Frauen.

BRIGITTE: Moment, Sie meinen: Alle sollten nur noch Teilzeit arbeiten?

Jutta Allmendinger: 32 Stunden sind für mich die neue Vollzeit.

BRIGITTE: Für alle - Frauen wie Männer? Oder meinen Sie speziell für Mütter und Väter?

Jutta Allmendinger: Für alle. Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft, und alle müssen sich über die eigene Erwerbstätigkeit absichern, Männer wie Frauen. Dafür stehen uns immer mehr Lebensjahre zur Verfügung. Die Anforderungen wachsen. Wir müssen uns weiterbilden, wollen Kinder erziehen, Eltern pflegen und brauchen auch mal eine Auszeit für uns selbst. 32 Stunden in der Woche, gedacht als Durchschnitt über das gesamte Erwerbsleben, erlauben diese Auszeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man Kinder erziehen möchte, wenn beide Partner fünf Tage in der Woche voll erwerbstätig sind.

BRIGITTE: Aber für Paare ohne Kinder funktioniert es.

Jutta Allmendinger: Es funktioniert nicht. Das spüren wir doch alle. Selbst wenn die Geschäfte, der Schuster und die Reinigung noch so lange aufhaben. Jeden Tag voll zu arbeiten plus Überstunden ist auf Dauer nicht zu schaffen. Jeder Mensch braucht und will auch Zeit für Gespräche, Urlaubsplanungen, Freunde, Familie.

BRIGITTE: Aber wer soll die 32-Stunden-Woche Ihrer Meinung nach bezahlen? Zur Zeit werden Arbeitszeiten ja eher verlängert.

Jutta Allmendinger: Das kostet doch gar nicht mehr. Es ist ja nur eine Umverteilung. Nur wenige Frauen arbeiten heute 32 Stunden. Das ist ja ein Hauptgrund für ihre niedrigen Renten. Wenn man die Arbeitszeit von Frauen erhöht und die von Männern reduziert, haben wir immer noch ein höheres Arbeitsvolumen als heute. Es geht also gar nichts verloren. Aber die Produktivität steigt.

"Wir alle müssen weg vom 'Je mehr, desto besser'"

BRIGITTE: Wieso wird dadurch die Produktivität erhöht?

Jutta Allmendinger: Frauen sind so gut ausgebildet wie nie zuvor. Aber nur selten können sie ihre Ausbildung und ihre Kompetenzen im Beruf voll entfalten. Das produktive Kapital der Frauen wird also nicht voll genutzt. Mit einer höheren Teilzeit oder niedrigeren Vollzeit, wenn Sie es so ausdrücken wollen, wird das Potenzial dieser Frauen besser ausgeschöpft. Gleichzeitig fördert die Umverteilung von Erwerbsarbeit zwischen Frauen und Männern die Lebenszufriedenheit beider Geschlechter, und die Aufstiegs-Chancen von Frauen steigen.

BRIGITTE: Dann bräuchten wir ja die vielfach geforderte Quote für Frauen in Führungsgremien gar nicht mehr, oder?

Jutta Allmendinger: Richtig. Aber da die Ausgangslage so mau ist, können wir erst mal noch nicht auf sie verzichten.

BRIGITTE: Wer wird sich denn da schwerer tun? Die Frauen, die erhöhen, oder die Männer, die reduzieren sollen?

Jutta Allmendinger: Wir wissen: Frauen, die einen Job haben, in dem sie sich entwickeln können, sind viel zufriedener und glücklicher - auch mit ihren Kindern. Und die Kinder zufriedener Mütter sind auch glücklich. Viele Männer wünschen sich ihrerseits eine kürzere Vollzeit und weniger Überstunden. Auch Erfahrungen aus Skandinavien stimmen optimistisch. Insofern glaube ich, dass viele Väter diese Veränderung mittragen würden.

BRIGITTE: Wie haben denn Länder wie Schweden oder Dänemark diesen gesellschaftlichen Umbruch geschafft?

Jutta Allmendinger: Diese Länder haben eine andere Kultur und andere Sozialstaatsmodelle. Unser Sozialsystem, so, wie es von Bismarck eingeführt worden ist, hat von vornherein auf Familien gesetzt, die in sich ungleich sind. In den skandinavischen Ländern gab es das Einverdienermodell, in dem die Frau und die ganze Familie vom Einkommen des Mannes mitversorgt wird, so nie. Man kennt dort keinen Begriff wie Rabenmütter, kein Ehegatten- Splitting, sondern setzt auf individuelle Besteuerung. Und dieser Ansatz ist geschlechteroffen.

BRIGITTE: Wo könnten wir denn in Deutschland ansetzen - abgesehen von der Abschaffung des Ehegatten-Splittings?

Jutta Allmendinger: Wir müssen unsere Arbeitskultur ändern. Solange wir sagen, eure Chancen steigen, je mehr ihr arbeitet, je länger ihr anwesend seid, je mehr ihr produziert, kann dieses neue Gesellschaftsmodell nicht funktionieren. Wir müssen uns auf gesunde Grenzen verständigen und sollten nicht mehr den maximalen Umsatz mit Boni belobigen.

BRIGITTE: Sie sind Chefin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung mit 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Führen Sie Ihr Institut nach diesen Grundsätzen?

Jutta Allmendinger: Ich versuche es. Ausdrücklich stelle ich mich gegen ein "Je mehr, desto besser". Ich brauche keine Kurven, die immer nach oben gehen. Was wir erreicht haben, ist gut. Ein Rennen um beste Platzierungen bei Rankings ist für die Forschung fatal. Es verhindert inhaltlichen Fortschritt und führt zu Spiralen der Selbstausbeutung. Deshalb lobe ich den Mitarbeiter, der fünf Artikel geschrieben hat, nicht mehr als die Mitarbeiterin, die drei schreibt. Die gleiche Qualität vorausgesetzt.

BRIGITTE: Ihrem Institut eilt auch der Ruf voraus, besonders elternfreundlich zu sein. Was machen Sie anders?

Jutta Allmendinger: Ich sorge für eine Willkommenskultur. Das klingt abgedroschen, aber alle im Haus wissen, dass ich mich riesig über jedes Kind freue, das von einer unserer Angestellten geboren wird. Ich lasse schon beim Vorstellungsgespräch die Vereinbarkeit ansprechen, entwerfe Szenarien, wie ein Leben und Arbeiten sich bei uns mit Kind gestalten ließe. Ich enttabuisiere das Thema und mache es zur Chefsache.

BRIGITTE: Viele befürchten ja einen Karriereknick, wenn sie Elternzeit nehmen - Männer begründen damit oft, warum sie sich nicht mehr an der Kinderbetreuung beteiligen.

Jutta Allmendinger: Genau das darf nicht sein. Die neue Arbeitskultur muss auch Männern vermitteln: Es ist okay, wenn ihr euch um eure Kinder kümmert, ihr könnt dennoch Karriere machen. Ob ihr ein Sabbatical nehmt, einen langen Auslandsaufenthalt oder bei eurem Kind seid - alles wird gleichermaßen gewürdigt.

BRIGITTE: Wie reagieren die männlichen Mitarbeiter in Ihrem Haus?

Jutta Allmendinger: Ich habe mittlerweile keinen einzigen jungen Vater mehr am Institut, der keine Elternzeit genommen hat.

BRIGITTE: Das klingt fast, als müssten Sie schon aufpassen, dass Sie Nichtmütter und Nichtväter nicht diskriminieren...

Jutta Allmendinger: Darüber mache ich mir manchmal tatsächlich Gedanken. Eine Willkommenskultur für Kinder darf jene, die aus verschiedenen Gründen keine Kinder haben, nicht diskriminieren. Im Moment ist es aber leider auch in der Wissenschaft generell noch so, dass Menschen ohne Kinder und ohne Familie aufgrund ihres größeren Oeuvres noch Vorrang haben.

BRIGITTE: Wie geht es weiter in Deutschland - sagen wir in fünf Jahren -, wie viel Prozent der Frauen werden 2018 mindestens 32 Stunden pro Woche arbeiten?

Jutta Allmendinger: Exakt kann ich das nicht prognostizieren. Aber ich hoffe, dass sich das Arbeitsvolumen von Frauen erhöht und dass es leichter wird, mal weniger und mal mehr Stunden zu arbeiten.

Interview: Silke Baumgarten und Sinja Schütte BRIGITTE 1/2013

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